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Auch beim Berlin-Marathon ist unsere Kolumnistin schon mitgelaufen.
© Reuters

Kolumne „Losgelaufen“: Wenn nichts mehr läuft, dann lauf!

Der Laufsport hat unserer Kolumnistin einst das Leben gerettet. Heute genießt sie es einfach, beim Laufen die Gedanken fliegen zu lassen.

Jeannette Hagen arbeitet als freie Autorin in Berlin und ist ausgebildete Sport- und Gymnastiklehrerin und Läuferin. Hier schreibt sie im Wechsel mit Radsporttrainer Michael Wiedersich.

Ich bin neu hier, darum ein paar Worte zu mir, bevor wir alle 14 Tage gemeinsam über das Laufen plauschen. Es ist nicht übertrieben, wenn ich schreibe, dass der Laufsport mir das Leben gerettet hat. Als ich von 1986 bis 1989 auf die Genehmigung meiner Ausreise aus der DDR wartete, gab es am Ende – ausgelöst durch die Repressalien, die ich erfuhr – eine Phase, in der es mir schwerfiel, einen Lebenssinn zu finden. Ein Freund, der meine Not erkannte, animierte mich damals zum Laufen, und ich weiß noch wie heute, wie schwer mir die ersten Schritte gefallen sind.

Ich lebte in der Nähe von einem Trümmerberg in Hohenschönhausen und an dem Tag, als ich es endlich schaffte, ihn ohne Gehpausen hochzulaufen, waren das Glücksgefühl und die Lebensfreude wieder da. Seither laufe ich. Mal konsequent, mal mit weniger Begeisterung, mal mit ambitionierten Zielen, dann wieder als Ausgleich. Aber der Satz „Wenn nichts mehr läuft, dann lauf!“ hat sich eingebrannt. Das Laufen begleitet mein Leben wie ein guter Freund, der einfach da ist, wenn man ihn braucht.

Während meiner Ausbildung zur Sportlehrerin habe ich den Laufsport nicht nur von der Theorie her durchdrungen, sondern hatte vier Jahre die Gelegenheit, den Läufern und Läuferinnen beim Berlin-Marathon die hartgelaufenen Waden zu massieren und mir dabei ihre Geschichten anzuhören. Später, als Dozentin für Trainingslehre an einer Schule für Physiotherapie konnte ich meine Begeisterung weitergeben. Ambitionen, selbst mal einen Marathon zu laufen, gab es bis dato nicht. Das hat sich erst entwickelt, nachdem ich Jahr für Jahr bei jedem Marathon am Straßenrand stand und mit großer Begeisterung und vor allem großer Rührung anderen beim Laufen zusah und mich fragte, wie lange ich eigentlich noch warten will.

Davor gab es allerdings noch eine Phase, in der ich das Laufen benutzte, um mir selbst etwas zu beweisen. Das trieb ich bis zum körperlichen Raubbau. Irgendwann ging es nicht mehr, ich musste ganz aufhören und buchstäblich Schritt für Schritt wieder lernen, nicht gegen mich, sondern für mich und mit mir zu laufen.

Laufen ist Seelennahrung, kann aber auch zur Obsession werden

Nach der Teilnahme am Berliner Halbmarathon 2017 und 2018 war die Anmeldung für den Berlin-Marathon ein kurzer Weg. Natürlich hat sich mein „Laufen“ dadurch wieder verändert. Es ist nicht mehr das lockere „Ich drehe mal eben eine Runde“. Trotzdem schätze ich die Erfahrung sehr, weil das Training natürlich dazu beiträgt, mich selbst besser kennenzulernen, Grenzen auszuloten und sie zu verschieben. Nach dem Marathon ist ja bekanntlich vor dem Marathon.

Laufen ist Seelennahrung, kann aber auch zur Obsession werden. Beides habe ich erfahren. Das Gleichgewicht zu halten, eigene Regeln aufzustellen, bereit zu sein, sie auch wieder zu verwerfen, mutig zu sein, auf seinen Körper zu hören, sich mit der Natur oder seiner Umgebung zu verbinden, die Laufschuhe aber auch mal stehenzulassen, wenn der Körper streikt – all das sind Erfahrungen, die ich am Laufen unglaublich schätze.

Für mich gibt es keine bessere Gelegenheit, die Gedanken fliegen und der Kreativität freien Lauf zu lassen, als die Zeit, in der ich mit meinem Hund im Park, auf dem Gehweg oder im Wald laufe. Manchmal mit Musik, manchmal mit einem Hörbuch, aber meist einfach so ohne Ablenkung. Die kommt ohnehin, wenn mir Menschen begegnen, Wildschweine auf dem Weg stehen oder ich mir den Kopf darüber zerbreche, mit welchem Satz ich den nächsten Text beginne. Ich freue mich, wenn Sie mich zukünftig dabei begleiten.

Jeannette Hagen

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