EM: Italien gegen Deutschland: Wenn ihr auf Italien trefft, hört ihr auf zu funktionieren
Für Deutschland ist Italien der Angstgegner. Und andersherum? Unser italienischer Gastautor beschreibt, wie sehr sein Land uns Deutsche fürchtet, bewundert und manchmal sogar liebt. Ein Essay.
Mein erstes Spiel Italien gegen Deutschland war am 14. Juni 1978, bei der Weltmeisterschaft in Argentinien. Ich war acht Jahre alt und wir waren am Meer, wir sahen das 0:0 bei einem Freund meines Vaters. Ich erinnere mich noch an das Bedauern, den amtierenden Weltmeister nicht geschlagen zu haben, ich erinnere mich an die Schlangen an den Zapfsäulen, ich erinnere mich an den Geschmack dieses ersten Aufeinandertreffens.
Heute ist Italien gegen Deutschland für mich das absolute Duell.
Ein unkontrollierbarer Adrenalinspiegel
Wir sind euer Angstgegner, das sagen die Ergebnisse. Ihr habt uns nie geschlagen, wenn es darauf ankam, und ausgerechnet gegen euch haben wir 1982 die schönste Weltmeisterschaft aller Zeiten gewonnen, als wir die Stärksten schlugen, von Argentinien bis Brasilien, von Polen bis eben Deutschland.
Jede Neuauflage ladet ihr mit Worten auf, das Adrenalin steigt hoch und ihr kommt nicht dagegen an: Trotz eurer Stärke, trotz eurer guten Organisation, obwohl ihr wie so oft amtierender Weltmeister seid, zählt diese Partie auch für euch Deutsche alles.
Ihr habt uns verspottet, doch es beginnt alles bei Null
Ihr habt uns klein gemacht, ausgelacht, habt uns diesmal als „Greise“ verspottet. Aber ihr wisst genau: Wenn der Ball im Anstoßkreis liegt, beginnt alles bei Null und das Spiel ist dann einzig und allein: Italien gegen Deutschland.
Wenn wir aufeinandertreffen, dann ist es, als würden wir gegenseitig in unsere Geschichte blicken, nicht nur sportlich. Da sind der Krieg, die Sommerferien, nie vergessene Liebschaften, Groll und manche Verstimmung. Aber da ist noch viel mehr. Wir Italiener bewundern eure Effizienz, eurer Organisationstalent, eure Sauberkeit, eure Wirtschaft.
Ihr bewundert unsere Kunst, unsere Kultur, unser Handwerk, das Essen und die Landschaft, ihr seid regelrecht darin verliebt. Wir sind für euch noch das Italien des 18. Jahrhunderts aus Goethes Reisen. Wir haben uns beide von der Zerstörung des Krieges erholt und wir mussten lernen, uns wieder zu respektieren, wie ein Kind, das Dinge völlig neu erlernt.
Vorfreude ist die schönste Freude
Ich war noch nicht einmal ein Jahr alt, als 1970 die Partie des Jahrhunderts gespielt wurde, das 4:3 im WM-Viertelfinale in Mexiko Stadt, aber ich habe noch die Erzählung meines Vaters im Ohr, der damals Medizin studierte. Es war Nacht in Italien und die Begeisterung war unglaublich, noch größer als bei unserem einzigen EM-Titel zwei Jahre zuvor, auch wenn das WM-Finale ein paar Tage später bitter 1:4 verloren ging gegen Brasilien. Gegen euch Deutsche zu spielen, löst bei mir starke Emotionen aus. Ich spüre schon dieses Kribbeln, die Lust diese 90 oder 120 Minuten bis zum Ende zu durchleben und zu durchleiden, sich zu freuen, zu fluchen, zu jubeln.
Wenn möglich.
Ihr habt vier Welt- und drei Europameisterschaften gewonnen. Ihr seid stark, ihr betretet den Platz immer, um zu gewinnen. Aber wenn ihr auf Italien trefft, hört etwas in euch auf zu funktionieren. Der kalte Schweiß läuft euch hinunter und am Ende wisst ihr oft nicht einmal, was ihr falsch gemacht habt. Ich halte Joachim Löw für einen der intelligentesten und bestvorbereiteten Trainer, die es gibt. Aber im Halbfinale 2012 hat er mit der Aufstellung völlig daneben gegriffen. Ich habe mich gefragt, wie es möglich war, dass eine fußballerisch so starke Mannschaft, die zwei Jahre später Weltmeister werden sollte, uns so wenig verstanden hatte, eigentlich bis zehn Minuten vor Schluss.
"wenn wir verlieren, werdet ihr uns wieder aufziehen"
Ich verrate euch ein Geheimnis. Ich war im WM-Halbfinale 2014 für euch gegen Brasilien, ich habe das 7:1 regelrecht genossen, weil ich den Fußball in seiner eleganten Effizienz liebe und es diese unfähige brasilianische Mannschaft verdient hatte, dass ihr sie auseinandernehmt. Im Finale war ich dann natürlich aber doch für Argentinien, weil ich nicht wollte, dass ihr uns bei den Weltmeistertiteln einholt.
Der große Unterschied zwischen euch und uns ist, dass ihr stark seid und es wisst. Ihr sagt es, ihr schreit es fast heraus. Wir Italiener halten das für überheblich. Wir Italiener verstehen es ebenfalls, stark zu sein, im Fußball. Aber wir wissen, wenn wir verlieren, werdet ihr uns wieder aufziehen mit all den Dingen abseits des Fußballs, die in Italien nicht funktionieren. Das ist ein Luxus, den wir uns nicht erlauben können. Auch wenn es in diesen Zeiten viele negative Gefühle gegenüber Deutschland gibt, wegen seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Der italienische Siegeswille ist angeboren
An eine Sache erinnere ich mich gerne. Wie ihr in den Achtziger und Neunziger Jahren, um das Siegen wieder zu erlernen, bei uns Italienern in die Lehre gegangen seid, mit euren besten Spielern, wie Lothar Matthäus und Oliver Bierhoff. Ihr habt von unserem Training gelernt, von unserer Organisation, von unserem Siegeswillen.
Trotz aller Stärke und guten Vorbereitung fürchtet ihr unseren Siegeswillen. Weil man den nicht erlernen oder trainieren kann, weil er von tief innen kommt, wenn alle sagen, dass du verlieren wirst. Denn wenn ihr am Ende gewinnt, dann seid ihr wieder stark. Aber wenn wir gewinnen, ist es mehr als ein Sieg.
Francesco Caremani ist freier Journalist und schreibt für mehrere italienische Tageszeitungen, vor allem für „Il Foglio“ aus Mailand. Der 46-Jährige lebt mit seiner Familie in Arezzo in der Nähe von Florenz. Seine Lieblings-Fußballteam ist Juventus Turin – nach der italienischen Nationalmannschaft natürlich.
Francesco Caremani