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Mehr als vier Millionen Menschen in den deutschen Sportvereinen sind inzwischen über 60 Jahre alt.
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Reif für Bewegung: Warum Seniorensport boomt

Sportkultur für ältere Menschen hat in Deutschland noch nicht den Status der Selbstverständlichkeit erreicht. Dabei ist die Nachfrage gewaltig.

Der Boomsport wartet hinter einer Resopaltür mit Plastikgriff in einem Flachbau mitten im Märkischen Viertel. Acht Frauen und ein Mann in den Sechzigern und Siebzigern turnen zu Musik aus den Neunzigern. Von vorne hält Trainerin Heike Gottstein alle auf Trab, eine Dreiviertelstunde Laufen auf der Stelle, Übungen für Arme, Beine, Rücken, Schultern, Hände, Knie, und am Ende sind die Gesichter erschöpft, haben aber noch genügend Kraft für ein breites Lächeln. Es ist eine von 103 Gruppen für Gesundheitssport beim TSV Wittenau. Angebote für ältere Menschen sind der am stärksten wachsende Bereich innerhalb des Sports, und wenn man darüber etwas erfahren will, führt in Berlin kein Weg am TSV Wittenau vorbei.

Man könnte es sich ganz einfach machen und sagen: Die Gesellschaft wird älter, also gibt es eben auch mehr Sport für ältere Menschen, und dann noch ein paar Zahlen hinterherschieben wie die, dass 4,2 Millionen Mitglieder in deutschen Sportvereinen inzwischen über 60 sind, während es vor 25 Jahren noch 1,9 Millionen waren. Aber ein Besuch beim TSV Wittenau kann eben auch davon erzählen, wie Menschen heute älter werden, welche Bedürfnisse sie haben und was das mit dem Sport insgesamt macht.

Als Führerin durch den Boomsport bietet sich Elke Duda an. Sie ist beim TSV Wittenau seit rund zehn Jahren Vereinsmanagerin, kümmert sich dabei um alle sportlichen Projekte und die Weiterentwicklung des Vereins. Sie sagt jedenfalls, dass es gut sei, sich große Ziele zu setzen, aber erstmal die Mühen der Ebene zu bearbeiten. Gerade in einem Stadtteil wie dem Märkischen Viertel. „In den 60er Jahren sind hier viele Familien hierhergezogen, jetzt sind die Kinder groß, bei manchen ist der Partner gestorben, deshalb leben hier viele alleinstehende Senioren“, sagt Elke Duda. Gerade für diese Menschen wollen sie Angebote machen.

2008 haben sie damit angefangen. Seitdem haben sie 1000 neue Mitglieder gewonnen, 3200 haben sie inzwischen, davon 1200 im Gesundheitsbereich. Derzeit wachsen sie noch jährlich um fünf bis sechs Prozent. Die Hälfte der Mitglieder ist zwischen 65 und 75 Jahre alt, es gibt auch einige über 90-Jährige. Im Senftenberger Ring kommen die ersten morgens um neun, und gehen die letzten um 21 Uhr. Es ist eine von 27 Sportstätten, die der TSV Wittenau nutzt.

4,2 Millionen Mitglieder in deutschen Sportvereinen inzwischen über 60

Es ist nicht nur so, dass dieser Bereich in Berlin und Deutschland wächst, weil es mehr ältere Menschen gibt. Auch der prozentuale Anteil steigt, also der Organisationsgrad. Das hat Auswirkungen auf die ganze Sportlandschaft. „Die älteren Menschen sind eben nicht mehr die Berliner Fenstergucker, sondern Menschen, die ganz intensiv am Leben teilnehmen wollen“, sagt Anke Nöcker, die beim Landessportbund Berlin die Abteilung Sportentwicklung leitet. Ihr Verband hat darauf unter anderem in der Übungsleiterausbildung reagiert, mit Modulen für Sport mit Älteren, manchmal gibt es dafür sogar Wartelisten. Und Nöckers Kollegin Katja Sotzmann erzählt von einem Alltagstrainingsprogramm für ältere Menschen als Zusatzfortbildung für Übungsleiter. „Da geht es erst einmal um richtige Bewegung, wie hebe ich und trage ich richtig.“ Sport für ältere Menschen ist also oft sehr lebensnah.

Seniorensport klingt eigentlich sehr einfach, meint aber doch ganz viel Unterschiedliches. Beim TSV Wittenau sind es drei verschiedene Gruppen. Diejenigen, die ihr Leben lang Sport gemacht haben und ihre Sportbiografie weiterführen wollen. „Sportstars“ nennen sie sie anerkennend im Verein. Dann als zweite Gruppe diejenigen, die immer mal wieder was gemacht haben und sich jetzt mit Sport gesund erhalten wollen, also die Wiedereinsteiger. Und dann diejenigen, die erst im Alter so richtig mit Bewegungsprogrammen anfangen, die Gruppe treibt in Wittenau Sport unter dem Namen „Rostschutz“.

Das Problem mit den Sportanlagen

Heike Gottstein (rechts) ist eine von 48 Übungsleitern, die beim TSV Wittenau Gruppen im Gesundheitssport betreuen.
Heike Gottstein (rechts) ist eine von 48 Übungsleitern, die beim TSV Wittenau Gruppen im Gesundheitssport betreuen.
© .Foto: Teuffel

Alter steht beim TSV Wittenau nicht für müde, langsam, unbeweglich, sondern für agil und den Wunsch, sein Leben mit so wenig Unterstützung wie möglich zu leben. „Es geht um praktische Dinge wie mit den Armen noch so weit hinter den Rücken zu kommen, um sich den BH zuzumachen oder ganz oben aus dem Schrank noch eine Tasse rauszuholen“, sagt Duda.

„Die Senioren von heute brauchen einen ganz anderen Sport als noch vor 20 Jahren“, erzählt sie, „jetzt haben wir eine Generation, die die ganze Variation des Breitensports schon kennen gelernt hat.“ Daraus erwachsen bestimmte Vorstellungen. Eine Gruppe, die nicht größer ist als 15 Leute. Saubere Umkleideräume. Eine klare Ansprache durch die Kursleitung. Und messbare Ziele. Die Walkinggruppe von Elke Duda macht beispielsweise jedes halbe Jahr einen Fitnesstest.

Ehrgeiz wird nicht alt - gerade Männer messen sich gern

Messbarkeit ist im Alter übrigens vor allem Männern wichtig, im Rehasport sind nur ein Drittel Männer. In Deutschland können jedoch gerade Sportarten wie Leichtathletik bei älteren Männern Zuwächse verzeichnen, der Ehrgeiz wird nicht alt, manchmal lebt er sogar noch einmal neu auf und um Altersklassenrekorde wird eifrig gekämpft.

Aber auch Spielsportarten entwickeln noch einmal ihren ganz eigenen Reiz. Über Tischtennis etwa hat der Arzt Jean-Francois Kahn einmal gesagt: „Es ist ein meditativer Sport. Er erlaubt dir zu träumen. Auch mit 80 kann man noch träumen, es ist wie in einem Trancezustand zu sein.“ Und der Kardiologe Steve Horwitz sagte dazu: „Wettbewerb hat eine symbolische Bedeutung. Es drängt die Dämonen zurück“, die Dämonen des Alters, „es lässt die Menschen sich jünger fühlen. Die enthusiastischen Spieler bei den US Open im Tischtennis sind die älteren Spieler.“

Beim TSV Wittenau spielen Spielsportarten und auch Leistungsformen wie das Sportabzeichen eher eine untergeordnete Rolle, auch wenn das Sportabzeichen bei älteren Menschen sehr beliebt ist. „Kugelstoßen mit einer Kalkschulter ist nicht so der Brüller, Standweitsprung mit Blasenproblematik auch nicht. Da wünschte ich mir Alternativen im Sportabzeichen“, sagt Duda.

Wenn es um Sport für ältere Menschen geht, dann gerade in Berlin um einen speziellen Punkt: die Sportanalagen. „Die Zeiten, die gut für den Seniorensport wären, sind den Kindern vorbehalten“, sagt Duda, „und nach 20 Uhr kommen kaum noch Senioren. Wir brauchen Räume, die wir ganzjährig und verlässlich nutzen könnten.“ Ihre Forderung lautet daher: „Wir müssen davon wegkommen, dass Sportstätten nur für den Schulbedarf da sein sollen.“

Ältere Menschen brauchen keine DIN-genormte Dreifelderhalle, sie machen lieber in kleinen Räumen Sport. Mit dieser Problematik beschäftigt sich auch der Landessportbund, ein Ansatz lautet, sich neue Kooperationspartner zu suchen. „Zum Beispiel in einem Nachbarschaftshaus oder in einer Pflegeeinrichtung“, sagt Katja Sotzmann. Das trägt nicht nur zur Linderung des Raumproblems bei, es führt auch dazu, ältere Menschen für Sport und Bewegungsangebote zu erreichen, die damit sonst nicht in Berührung gekommen wären.

Sportstätten sollten nicht nur am Schulbedarf ausgerichtet werden

Kinder lassen sich viel leichter erreichen, über Kitas und Schulen. Bei älteren Menschen ist bei der Kontaktaufnahme mehr Kreativität gefragt, gerade in Vereinen, bei denen die Empfehlungen nicht einfach mündlich weitergegeben werden wie beim TSV Wittenau. Als Kooperationspartner kommen dabei etwa auch die Wohnungsbaugesellschaften in Frage. Um möglichst viele ältere Menschen zu erreichen, gibt der Landessportbund auch eine Broschüre mit vielen Angeboten in fünfstelliger Auflage heraus.

Noch hat die Sportkultur für ältere Menschen in Deutschland auch nicht den Status der Selbstverständlichkeit erreicht wie etwa in China oder Japan, wo in den Morgenstunden die Parks bevölkert sind mit ganzen Gruppen, die gemeinsam ihre Übungen machen. Parksport ist in Deutschland ohnehin für die Vereine Risiko und Chance zugleich, Risiko, weil manche sagen könnten, warum Vereinsbeitrag zahlen, wenn ich Sport im Park umsonst bekomme. Chance, weil durch attraktive Angebote manche doch als Mitglieder gewonnen werden können.

Sport für ältere Menschen kann für viele Vereine ein Mittel zur Überlebenssicherung sein, hier lassen sich weitere Zuwächse erzielen, während in der Generationenmitte, bei den Menschen, die gerade im Aufbau von Familie und Berufslaufbahn sind, gerade immer weniger zu holen ist. Die Ansprache ist dabei ein entscheidender Faktor, ob Vereine älteren Menschen auch soziale Angebote machen können, feste Termine, ein ergänzendes Programm mit Spieleabenden, Ausflügen oder Museumsbesuchen.

All das werde nach den Erfahrungen von Elke Duda sehr geschätzt. Was man falsch machen kann? „Man sollte Senioren nicht wie Kinder behandeln“, sagt Duda, „sie haben so reiche und bunte Lebensläufe hinter sich. Da geht es vor allem um Wertschätzung. Kleine Fortschritte im Sport sollten gewürdigt und belohnt werden.“

Vereine wie der TSV Wittenau und andere haben das längst verstanden und ihr Angebot darauf ausgerichtet. Die Zeit läuft für sie.

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