Vor dem ersten EM-Spiel: Warum Julius Kühn für die deutschen Handballer so wichtig wird
Als Julius Kühn bei der Weltmeisterschaft verletzt pausierte, fehlten dem Team Wucht und Torgefahr. Wenn am Donnerstag die EM beginnt, ist er wieder mit dabei.
Der Deutsche Handball-Bund (DHB) hat in diesen Tagen vor der Europameisterschaft ein vielsagendes Foto über seine sozialen Kanäle hinaus in die Welt gesendet. Es zeigt Julius Kühn bei der Gepäckabgabe am Flughafen. Der Rückraumspieler wuchtet einen offensichtlich schweren Koffer auf das Fließband, an dem sich jeder Normalsterbliche wohl verhoben hätte. Kühn dagegen wirkt so locker wie Popeye nach einer Portion Spinat – und grinst gut gelaunt in die Kamera.
Neben Kreisläufer Jannik Kohlbacher, dem mit Abstand besten Gewichtheber der deutschen Auswahl, ist Julius Kühn die vielleicht imposanteste physische Erscheinung im Nationalteam. Den härtesten Wurf hat der 26-Jährige vom Bundesligisten MT Melsungen in jedem Fall. Am besten ist das zu beobachten, wenn sich ein Wurf des Zwei-Meter-Mannes ausnahmsweise nicht im Netz verfängt, sondern mit seiner ganzen Wucht an den Pfosten knallt. Dann bringt er jedes noch so im Hallenboden verankerte Tor zum Wackeln.
Das finale Aufgebot für die Handball-EM steht
Auf Kühns Shooter-Qualitäten wird es in den kommenden Tagen und Wochen besonders ankommen, wenn die deutschen Handballer bei der Europameisterschaft in Norwegen, Österreich und Schweden antreten. Vor dem Auftaktspiel gegen die Niederlande an diesem Donnerstag (18.15 Uhr, live im ZDF) in Trondheim ist der gebürtige Duisburger einer von ganz wenigen Rückraumspielern, die die Reise zum Turnier überhaupt erst mit antreten konnten.
Eine beispiellose Verletzungswelle hatte Christian Prokop im Vorfeld des Turniers dazu gezwungen, seinen Kader mächtig durcheinanderzuwirbeln. Insgesamt muss der Bundestrainer auf sieben (!) Rückraumspieler verzichten, darunter fallen Ausnahmekönner wie Fabian Wiede oder Simon Ernst. Aus dem aktuellen Kader gestrichen wurde am Mittwoch zudem noch Kreisläufer Johannes Golla. Damit steht das finale EM-Aufgebot mit 16 Mann, aus dem sich Prokop nun bedienen darf.
Für Kühn wäre auch ohne die zahlreichen Ausfälle ein sicherer Kaderplatz reserviert gewesen. Von den deutschen Nationalspielern haben in der laufenden Bundesliga-Saison nur sein Melsunger Teamkollege Kai Häfner (97 Tore) sowie die Außenspieler Uwe Gensheimer (131) und Patrick Zieker (109) noch mehr Tore erzielt als Kühn (83). Im Gegensatz zu ihm führen Gensheimer und Zieker allerdings auch die Siebenmeter ihres Teams aus. Sie kommen also wesentlich einfacher zu klaren Torchancen.
Bei der Handball-WM im vergangenen Jahr fehlte Julius Kühn
Wie wichtig Julius Kühn sein kann, war vor ziemlich genau einem Jahr, bei der WM in Deutschland und Dänemark, zu beobachten. Nach einem Kreuzbandriss konnte er das Geschehen nur von einem Tribünenplatz aus verfolgen – ein schwerer Rückschlag für ihn persönlich und vor allem aber auch für das deutsche Offensivspiel. Dem Angriff mangelte es ganz offensichtlich an Wucht und Torgefahr. „Jetzt ist dieses Jahr Leidenszeit vorbei, ich habe es geschafft“, sagt Kühn, „ich bin echt froh, wieder dabei zu sein.“
Seine Nebenleute dürften diese Einschätzung uneingeschränkt teilen. Kühn zählt zu jener Kategorie Handballer, die selbst in brenzligen Situationen einen eigenen, gefährlichen Torabschluss kreieren können und die mit großer Verlässlichkeit simple Treffer aus der Entfernung erzielen. „Vor dieser Verantwortung werde ich mich nicht verstecken. Ich weiß, dass ich eine Schlüsselrolle einnehmen muss“, sagt Kühn. „Im letzten Jahr haben diese einfachen Tore aus der Distanz gefehlt, das Angriffsspiel hat ein bisschen gehakt.“
In den finalen Testspielen gegen Island und Österreich hat Kühn (insgesamt vier Treffer) einen guten Eindruck hinterlassen, der für die Ambitionen der Deutschen Hoffnung macht. „Allerdings muss ich noch an meiner Torquote arbeiten“, sagt er. Bundestrainer Prokop wird dem kaum widersprechen – und deshalb hat er seinen wurfgewaltigsten Rückraumlinken auch mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Wenn ein deutscher Spieler bei der EM grünes Licht dafür bekommt, pro Partie zehn Mal oder häufiger auf des Gegners Tor zu werfen, ist es: Julius Kühn.