Liverpools unglaubliche Aufholjagd: Walk on. Walk on.
An das 4:3 wird man sich in Liverpool und Dortmund noch lange erinnern können. Solche Spiel brennen sich ein ins kollektive Gedächtnis wie die eindringliche Zeile eines Liedes. Walk on.
Vielleicht wusste es Thomas Tuchel einfach nur nicht. Und vielleicht wussten seine Spieler es genauso wenig. Mit dem FC Liverpool spielt man nicht. Genauer gesagt: mit der Geschichte des FC Liverpool.
Anfield Road. Ein mythischer Ort des Fußballs. Wegen der Spieler, die hier spielten. Kenny Dalglish, Ian Rush, Jamie Carragher, Steven Gerrard. Wegen der Holzsitze auf der Tribüne in Zeiten der modernen Funktionsarenen. Vor allem: wegen der Fans. Die Menschen, die Woche für Woche ins Stadion kommen, trotz mittlerweile exorbitanter Eintrittspreise. Wenn sie beginnen, ihre Hymne zu singen, entsteht zwischen ihnen auf der Tribüne und den Spielern auf dem Rasen eine Verbindung, die generationenübergreifend nicht zu kappen ist. Wer für Liverpool singt, wer für Liverpool spielt, wird nie allein sein. You’ll never walk alone.
Mag sein, dass es ihnen kurz die Sprache verschlagen hatte, nach den frühen Toren der Dortmunder. Aber sie kamen zurück. Fans und Spieler. Gemeinsam. Spätestens nach dem zweiten Tor Mitte der zweiten Halbzeit sangen sie auf der Tribüne „The Kop“ ihre Hymne mit einer Inbrunst und in einem Tempo, das die Spieler aus dem Jetzt und Hier riss und in höhere Sphären beförderte. In einen Zustand, erhaben über jede Form der körperlichen Ermüdung.
Walk on. Walk on. Liverpools Spieler liefen, sie rannten, sie überrannten einen Gegner, der spielerisch, taktisch, fußballerisch so überlegen und emotional so unterlegen war. Die Dortmunder wähnten sich in Sicherheit. Sie wurden nachlässig. Weil sie es nicht besser wussten.
Abende wie der am Donnerstag sind selten. Sehr selten
Dabei hatten sie selbst schon mal so einen Abend erlebt. Nur umgekehrt, als glücklicher Sieger. In einer rauschhaften Nacht. Vor drei Jahren gegen Malaga war das. Als sie in der Nachspielzeit aus einem 1:2 ein 3:2 machten und der Radioreporter von „90elf“ entrückt schrie: „Ich flipp aus, ich kann nicht mehr. Dortmund macht das 3:2. Keine Ahnung wer’s geschossen hat, aber ist mir auch scheißegal.“ Die Energie, die in dieser Nacht freigesetzt wurde, sie trug Borussia Dortmund bis ins Finale der Champions League nach London und es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn die Nacht von Anfield Liverpool ins Endspiel der Europa League hievt.
Abende wie der am Donnerstag sind selten. Sehr selten sogar. Sie ereignen sich alle paar Jahre, in unregelmäßigen Abständen. Es ist wie mit einem Naturereignis. Niemand weiß, wann es kommt. Nur dass es kommt, ist gewiss. Diese Abende bleiben in Erinnerung, sie brennen sich ein ins kollektive Gedächtnis wie die eindringliche Zeile eines Liedes. Walk on.
Der Liverpool Football Club ist ein Klub, der immer wieder große Dramen durchleben musste. Hillsborough und Heysel, diese Tragödien des Fußballs mit so vielen Toten. Aus ihnen zogen spätere Generationen Kraft und Motivation, Helden entsprungen. Spieler wie Steven Gerrard, der bei der Katastrophe in Sheffield seinen Cousin verlor und später vor jedem Training am Mahnmahl der Hillsborough-Toten anhielt.
Alex Ferguson: „Football, bloody hell.“
Gerrard führte Liverpool 2005 bei der größten Aufholjagd in der Geschichte der Champions League an, als der übermächtige, unüberwindlich scheinende AC Mailand nach einem 0:3 zur Pause noch in die Knie und zu Tränen gezwungen wurde. In Erinnerung bleibt die Freude und die Anarchie, die nach dem Abpfiff herrschte. Ein Fan lief einfach runter auf den Rasen, er gesellte sich aufs Liverpooler Siegerfoto und feierte die ganze Nacht mit der Mannschaft durch. Niemand fragte, wer er eigentlich war.
Alex Ferguson, der legendäre Trainer von Manchester United, hat einmal versucht, diese Abende der totalen Extase in Worte zu fassen, wenn das Unmögliche sich seinen Weg in die Realität frisst wie eine Kettensäge ins Holz. Heraus kam nur ein ungläubiges Gestammel: „Football, bloody hell.“ Entstanden nach dem spektakulärsten Sieg der Klubgeschichte, dem 2:1 im Finale der Champions League gegen Bayern München. Franz Beckenbauer hatte sich bereits auf den Weg zur Pokalübergabe gemacht, am Ende musste er mitansehen, wie Bayerns Spieler kauernd auf dem Rasen saßen. Einige weinten, andere schauten apathisch ins Leere. Zu realisieren, was da gerade passiert ist, dauert manchmal Monate, hat Gaizka Mendieta einmal erzählt. Mit dem FC Valencia verlor er zwei Finals in Folge. Nach dem zweiten war es besonders schlimm. „Weil ich wusste, dass solch ein besonderer Abend nie wieder kommt.“