Deutsche Handballer bei Olympia: Von sich selbst überholt
Handball und Olympia – das war zuletzt keine gute Kombination aus deutscher Sicht. In Brasilien soll alles anders werden: Das Nationalteam zählt zu den Mitfavoriten.
Johannes Bitter trägt eine hellblaue Torhüter-Kombi aus Fleece, Jogginghose und Pullover, im schlimmsten Teletubbie-Stil. Er ist im Wortsinn am Boden zerstört, sitzt in seinem Tor, will mit dem Kopf vielleicht gegen den Pfosten schlagen. Mindestens. Er lässt es dann doch lieber. Die Mitspieler trösten und verhindern Schlimmeres.
Ein anderes Motiv zeigt den Handball-Nationalspieler auf der Ersatzbank, er sieht nicht viel besser aus, Tränen in den Augen, und seine Kollegen neben ihm haben sich lieber gleich Handtücher über den Kopf gezogen. Wie, Entschuldigung, bitter war das denn!? Als Gruppenfünfter (von sechs) verabschiedet sich Deutschland von den Olympischen Spielen, die punktgleichen Russen auf Rang vier haben das bessere Torverhältnis. Aus in der Vorrunde! Peinlich, peinlich für den seinerzeit amtierenden Weltmeister.
Die Bilder stammen aus dem Jahr 2008, es sind die letzten übermittelten aktiver deutscher Handballer bei Olympia und tatsächlich nur der Beginn der Katastrophe, die noch folgen sollte. Vier Jahre später in London scheitert die Nationalmannschaft in der Olympia-Qualifikation, zum ersten Mal in der Geschichte – damit bricht automatisch auch der größte TV-Markt weg. Hassan Moustafa, der Präsident des Weltverbands IHF, muss in der Folge sogar öffentlich darum kämpfen, dass die Sportart überhaupt olympisch bleibt oder zumindest keine Zweifel daran angebracht sind.
Zum Glück alles Schnee von gestern, die Realität heißt Rio. Wenn Deutschlands Handballer an diesem Sonntag gegen Schweden (16.30 Uhr, ZDF) ins olympische Turnier starten, sollen wieder andere Bilder rüberschwappen in die Heimat, positive, erfolgreiche, und die Chancen darauf stehen gar nicht mal schlecht. Die Auswahl von Bundestrainer Dagur Sigurdsson gehört in Brasilien zum Favoritenkreis auf eine Medaille, großes Interesse ist ihr als einer von wenigen deutschen Mannschaften aus den bedeutenden Teamsportarten sicher, ebenso wie eine hohe Erwartungshaltung. Dafür haben die Deutschen vor ein paar Monaten selbst gesorgt, als sie unter dem Pseudonym „Bad Boys“ Europas Handball-Elite überrumpelten und den EM-Titel aus Polen mitbrachten – und diesen Anspruch haben sie auch längst an sich selbst formuliert. Egal, welches Interview Andreas Wolff, die Entdeckung der EM, in den letzten Wochen gegeben hat, und das waren einige – ein Satz fiel immer: „Ich fahre nach Rio, um Gold zu gewinnen.“
Zum Auftakt trifft Deutschland am Sonntag auf Schweden - ausgerechnet
Nun ist Wolff, typisch Torhüter, der größte Heißsporn im Team, das offiziell ausgegebene Minimalziel vom Verband lautet Viertelfinale. Aber natürlich hat auch Bundestrainer Sigurdsson längst festgestellt, dass sich „viele gute Mannschaften nicht für Rio qualifiziert haben“, und das ist gar nicht despektierlich gegenüber den anderen Teilnehmern gemeint. Es entspricht schlichtweg den Fakten: Im Gegensatz zu Welt- und Europameisterschaften (24 beziehungsweise 16 Teilnehmer) dürfen bei Olympia nämlich nur zwölf Teams starten, die Konkurrenz ist also von Beginn an relativ überschaubar. Aus Europa etwa, dem mit Abstand stärksten Handball-Kontinent, sind einige große Länder in der Qualifikation gescheitert. Spanien zum Beispiel, bei der letzten EM noch Finalgegner der Deutschen. Zudem fehlt der EM-Halbfinalist Norwegen und die traditionell ambitionierten Isländer. Und auch aus den Balkanstaaten, fast ausnahmslos starke Handball-Nationen, hat sich nur Kroatien qualifiziert. Obwohl die Intensität der Partien bei Olympischen Spielen absolut vergleichbar ist mit anderen großen Turnieren, ist der Wettkampf faktisch einfacher zu gewinnen.
„Wir wissen alle, was für uns und unsere Sportart auf dem Spiel steht, wir können viel für den Handball tun“, sagt Nationalspieler Paul Drux, der mit 21 Jahren Jüngste aus dem deutschen Kader. Welches Potenzial das Spiel im Erfolgsfall besitzt, war bei der EM im Januar ziemlich gut zu beobachten: Beim Finale am 31. Januar saßen mehr als 15 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher und feierten Handball als das, was es idealerweise ist: ein dynamischer, harter Sport, in dem niemals nichts passiert und nicht gejammert wird, der sich bei aller Physis durch ausgeprägte Fairness im Miteinander auszeichnet, und dafür stand eine Szene sinnbildlich: Nachdem Spaniens Torhüter Arpad Sterbik mit voller Wucht einen Ball ins Gesicht bekommen hatte, schüttelte er sich kurz, gab dem deutschen Schützen versöhnlich die Hand, und das war’s.
Das Interesse ist auch deshalb ausgeprägt, weil die Deutschen über eine spannende und entwicklungsfähige Mannschaft verfügen. Die Spieler sehen vielleicht wie Schwiegersöhne aus, können auf dem Feld aber ganz schön böse Jungs sein. Womöglich ist es aktuell sogar die spannendste Mannschaft im Welt-Handball. Nach offizieller Verlautbarung sollte sie eigentlich erst 2020 in Tokio um olympisches Gold mitspielen, aber das hat sich mittlerweile von selbst überholt.
Irgendwie passt es zur Geschichte, dass die Deutschen in Rio zum Auftakt auf Schweden treffen. Gegen die Skandinavier lag das Nationalteam bei der EM zur Halbzeit deutlich zurück (14:18), der Bundestrainer ging danach volles Risiko, stellte fast alles um – mit Erfolg. Der Sieg im Gruppenspiel war eine Art Startschuss für das, was mit dem EM-Titel zu Ende gehen sollte. „Ich erwarte auch diesmal ein enges Spiel bis zur letzten Sekunde“, sagt Sigurdsson nun. Für die Zielvorgabe in Rio hat der Bundestrainer eine in vielerlei Hinsicht passende Metapher gefunden, er weiß selbstverständlich, wie wichtig ein guter Start ist. „Wir müssen die Welle treffen“, hat der Bundestrainer also gesagt, „dann können wir Großes schaffen.“ Witzigerweise ist die (erste und zweite) Welle auch ein Fachbegriff aus dem Handball, sie bezeichnet das Angriffsverhalten bei Kontern. Und womöglich bald auch den fortwährenden Vormarsch deutscher Handballer.