Kolumne: So läuft es: Unterwegs mit einer Vision
Unser Kolumnist trifft beim New-York-Marathon einen Mann, der im Kampf gegen Aids einmal die USA umrundet hat - und ist berührt von seiner Geschichte.
Wenn der größte Marathon der Welt ansteht, dreht eine ganze Stadt völlig durch. Der New-York-Marathon ist ein Muss für jeden Läufer, sagt man. Er gilt ein wenig als Ritterschlag für jeden Runner. Lange, wirklich lange habe ich mich dagegen gesträubt. Denn auch ohne jemals New York gelaufen zu sein, war mir klar: Es geht nicht größer, es geht aber auch nicht mehr Marketing und Kommerz. Eigentlich war ich in diesem Jahr auch schon bei viel zu vielen Wettkämpfen angetreten. Noch drei Wochen vor New York war ich den Amsterdam-Marathon gelaufen. Um dem Wahnsinn wenigstens etwas zu entkommen, stellte ich für mich ein paar Regeln auf: Erstens: Blende die Hysterie der Stadt aus und halte die Augen nach den stillen Momenten auf. Zweitens: Lauf jeden Tag an den schönen Plätzen der Stadt – entlang des Hudson Rivers oder durch den Central Park. Drittens: Lauf den Marathon langsam. Und sauge die Emotionen und die positive Energie der Menschen auf.
Drei Regeln für New York
Sollten Sie je Ihren Läufer-Ritterschlag erhalten wollen, so kann ich Ihnen diese Regeln nur wärmstens empfehlen. Dann wird der New-York-Marathon wirklich wunderbar. Versprochen.
Ja, dieser Marathon hat mich berührt und verändert. Ich bin New York mit einer großen Portion Respekt und Demut gelaufen. Und ich bin dankbar. Für meine eigene erste Regel! Es war ein sehr stiller Moment. Ich traf Nathaniel Siegel. Einen sehr sensiblen und leisen Textilverkäufer im Kaufhaus Saks auf der 5th Avenue, der mit der Beweglichkeit eines Freddie Mercury um mich herumflatterte. „Warum bist Du eigentlich hier, Mike?“, fragte mich Nathaniel schüchtern und höflich. „Ich laufe den Marathon am Sonntag. Und werde vielleicht etwas darüber schreiben. Allerdings eher über all die kleinen Geschichten um den Lauf. In meiner Kolumne. Es sind eher die leisen kleinen Laufwunder, die ich jeden Donnerstag aufschreibe“, antwortete ich.
Nathaniel hörte auf zu flattern. „Kennst Du Brent Nicholson Earle? Das ist ein Freund von mir. Er ist in den Achtzigern einmal um die USA gelaufen. Um auf Aids aufmerksam zu machen. Er hat seinen eigenen Verein dafür gegründet. Bis heute vergeht kein Tag, an dem er sich nicht zu 100 Prozent um seinen ,The American Run For The End Of Aids’ kümmert, und Spendengelder sammelt.“ Leider gehe es Brent nicht gut, sagte Nathaniel. „Er ist 65 Jahre alt. Er hat HIV, seit Jahrzehnten. Das Virus ist noch nicht ausgebrochen. Aber die Nebenwirkungen der Medikamente sind so heftig, dass sie aufs Herz schlagen.“
20 Monate, 9000 Meilen, einmal um ganz Amerika.
Nathaniel hat Tränen in den Augen. Und es wird mir klar: Da ist viel Liebe und Achtung für einen Läufer, für einen besonderen Mann, den ich unbedingt kennenlernen muss. Ich habe seinen Namen noch nie gehört. Den Namen eines Läufers, der vom 1. März 1986 bis zum 31. Oktober 1987 in 20 Monaten 9000 Meilen gelaufen ist, 14 400 Kilometer, einmal um ganz Amerika. Um auf Aids aufmerksam zu machen. Das People Magazin hat ihn zu einer der 20 wichtigsten Persönlichkeiten gewählt, die die 1980er Jahre geprägt haben. „Wenn Du möchtest, rufe ich Brent an. Vielleicht hat er Zeit, sich mit dir zu treffen“, sagt Nathaniel.
Das ist einfach surreal. Ich stehe in einem Kaufhaus in New York, nachdem ich gerade angekommen bin. Ich höre eine der emotionalsten Laufgeschichten der Welt und drei Minuten später spreche ich mit Brent Nicholas Earle am Telefon. Ich höre eine Stimme, die gezeichnet ist. Krank, zerbrechlich, und doch voller Feuer. Und noch surrealer ist, dass ich einen Tag später mit Brent in meinem Hotel sitze. Brent benötigt einen Stock, es hat ihn viel Kraft gekostet, zu unserem Gespräch zu kommen. Aber er hat darauf bestanden, selbst zu laufen. Einmal Läufer, immer Läufer. Egal, wie gezeichnet man ist. Das scheint seine Devise zu sein.
Es ist das erste Interview meines Lebens, bei dem ich nicht eine einzige Frage stelle. Es genügt ein Halbsatz von mir, und Brent läuft los. Es sprudelt aus ihm heraus. Ich habe nie einen Menschen gesehen, der derart viel Energie und Kraft hat, im Flow ist. „Weißt Du, vor diesem Lauf um die USA bin ich kaum gelaufen. Ich habe einen Neffen, der war damals ein unfassbar guter und schneller Läufer“, erzählt er. „Und ich dachte mir: Was der kann, das muss ich doch auch können. Ich lief ein paar Mal mit den New York Frontrunners, die bereits Charity-Läufe für die Aids-Foundation veranstalteten. Die weiteste Strecke, die ich lief, war zweimal um den Central Park, das sind 12 Meilen, knapp 20 Kilometer. Ich lief die alleine. Es war Herbst. Und ich hörte das Laub rascheln, der Wind blies es durch den Park. Und da hatte ich eine echte Vision. Mir wurde sehr klar und bewusst, das Aids nicht nur in der Gay Community einige Menschenleben kosten würde, sondern dass Aids Millionen von Menschen auf der ganzen Welt töten würde. Und genau so ist es gekommen“, sagt Brent traurig.
Brent war in den Siebziger und Achtziger Jahren nicht nur tief verwurzelt in der Gay Community in New York, er war Tänzer, Schauspieler, ein bunter Vogel, der in den Clubs sein freies Leben führte, er feierte mit Promis aus Musik, Film und Clubszene. „Bis heute ist es in den USA so, dass man wirklich glaubt, Aids sei kein Thema“, sagt Brent. „Das macht mich fertig.“ Die Sterberate gehe zwar zurück, „aber das liegt einzig und alleine an den Medikamenten, die wir zur Verfügung haben. Die Zahl derer, die sich mit HIV infizieren, steigt dramatisch an.“
"Mach es wie Terry Fox. Mach es wie er!“
Die Inspiration für seine eigene Lauf-Mission bekam Brent bei Terry Fox, der 1980 den „Marathon of Hope“ erfunden hatte. Fox war mit 18 Jahren an Knochenkrebs erkrankt, man nahm ihm sein rechtes Bein ab. Mit einer Prothese beschloss er, jeden Tag einen Marathon zu laufen, um Geld für die Krebsforschung zu sammeln. „Nach 143 Tagen und 5373 Kilometern musste er seinen Lauf beenden“, erzählt Brent. „Er hatte den Kampf gegen den Krebs verloren.“ Brent selbst suchte Rat bei seinem verstorbenen Vater, mit dem er damals oft das stumme Gespräch suchte. „Und ich bildete mir ein, dass er mir antwortete und sagte: Mach es wie Terry Fox. Mach es wie er“, sagt Brent. Und wieder ist da dieses Feuer.
Brent Nicholas Earle hat es mit seinem Lauf um Amerika nie in die Hauptnachrichten in den USA geschafft. Wir verabschieden uns schnell und herzlich. Brent muss mit einer Freundin ins Theater. In der Nacht bringt mir der Room Service einen Brief aufs Zimmer. Ein Brief von Brent: „Danke dafür, dass ich Dir etwas von meiner Geschichte erzählen durfte. Danke, dass Du über Dich erzählt hast. Wie Du zum Laufen gekommen bist. Das hat mich inspiriert. Ich werde morgen bei Meile 23 auf Dich beim Marathon warten, und Dich ins Ziel schreien. Viel Glück und viel Kraft!“
Kraft für den Central Park
Dieser Brief hat mich ins Ziel getragen. Und Brents Energie hat mir auf den letzten vier Kilometern durch den Central Park Kraft gegeben. Lieber Brent, diese Kolumne sind zwar nicht die Hauptnachrichten der USA, aber ich bin sicher: Deine Geschichte wird Deutschland erreichen. Und vielleicht flüstert sie jemand von hier weiter. In die Redaktion von CNN. Ich wünsche es Dir von Herzen. So läuft es.
Mike Kleiß leitet eine Kommunikations- und Markenagentur in Köln und schreibt hier an jedem Donnerstag übers Laufen. Informationen zur Kampagne von Brent Nicholson Earle findet man unter hier.
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