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Tony Martin hat die Einheit von Mensch-Rennmaschine perfektioniert, wie es sonst nur in der Formel 1 üblich ist.
© Imago

Olympia 2016 in Rio: Tony Martin - Freak auf Medaillenjagd

Beim Zeitfahren peilt Tony Martin Bronze an. Ihm muss dazu das fast Unmögliche gelingen - seine Konkurrenz hat er aber schon oft überrascht.

„Was für ein unfassbarer Freak“ - so fassten David Millar, immerhin zweifacher Vizeweltmeister im Zeitfahren, und Ryder Hesjedal, Girosieger 2012, eine Performance von Tony Martin bei der Vuelta 2013 zusammen, die sie am Fernseher mit heißem Herzen und ungläubigem Blick verfolgten.

Damals war Martin für einen ganzen Tag allein dem Profipeloton ausgebüxt. Er hatte sogar das Kunststück fertiggebracht, auf den letzten zehn Kilometern seinen Minivorsprung von zehn Sekunden gegenüber dem heranrasenden und auf den Etappensieg gierenden Feld noch auszubauen. „Er tat etwas, wozu er an sich nicht in der Lage hätte sein dürfen und was im modernen Radsport noch nie dagewesen war. Man konnte förmlich sehen, wie sich in der Spitze des Feldes Panik breit machte. Was als geordnete Teamverfolgung begann, geriet zu einer Reihe vereinzelter Kamikaze-Ritte, als sämtliche Mannschaften ihre Reserven aufbrauchten und sich gezwungen sahen, sogar ihre Kapitäne an der Verfolgung zu beteiligen“, schildert Millar in seinem jüngst erschienen Buch „Auf der Straße“ die Begebenheit.

Martin wird ein Bravourstück hinlegen müssen

Martin wurde auf den letzten 100 Metern noch eingeholt. Aber diese verrückte Leistung hat sich in die Hirne vieler Profis eingeschrieben. Sie ist Beleg für die physische und mentale Stärke des 31-Jährigen. Ein Bravourstück, eine Freakleistung dieser Art wird Martin auch an diesem Mittwoch abliefern müssen, um in die Nähe der Medaillen zu kommen. Denn der dreifache Weltmeister im Zeitfahren musste in den letzten Jahren immer wieder andere Fahrer an sich vorbeilassen. Das niederländische Rundfahrttalent Tom Dumoulin etwa, oder den Australier Rohan Dennis. Selbst ein Haudegen wie der Weißrusse Vasil Kiriyenka, vorher als guter, aber eben nicht exzellenter Zeitfahrer bekannt, war bei der letzten WM besser.

Das ist frustrierend für den einstigen Beherrscher dieser Disziplin. „Das ist jetzt eine Talsohle, die jeder Sportler mal durchlebt. Ich muss akzeptieren, dass ich nicht absolute Weltspitze bin“, sagte er vor dem Zeitfahren in Rio de Janeiro. Ein weiterer Stimmungsdämpfer ist, dass der Parcours in Rio für einen Powerzeitfahrer wie ihn nicht geeignet ist. Martins große Stärke ist es, auf den langen Geraden ein Tempo vorzulegen, dem oft nicht einmal ein ganzes Peloton, also das Hauptfeld der Fahrer, folgen kann. An dieser Fähigkeit hat Martin jahrelang gearbeitet.

Er hat an Sitzpositionen gefeilt, um möglichst wenig Luftwiderstand zu erzeugen und dennoch mit weit abgeknicktem Oberkörper Kraft auf die Pedale bringen zu können. Er hat die Einheit Körper-Rennmaschine in einem Maße optimiert, wie man es sonst nur aus der Formel 1 kennt.

Vor Rio intensivierte Martin sein Bergtraining

All das nutzt ihm in Rio wenig. Denn hier geht es nur auf und ab, so gut wie niemals ist es flach und gerade. Die Zeitfahrer müssen zwar nicht über die Vista Chinesa-Runde mit dem 8,5 Kilometer langen Anstieg, den man vom Finale des Straßenrennens und den schrecklichen Stürzen dort kennt. Aber auch der Grumari-Kurs mit einem 1,2 Kilometer langen Anstieg von bis zu 13 Prozent Steigung und einem weiteren von 2,1 km Länge und maximal sechs Prozent Steigung ist nicht ohne. Weil es gleich zwei Mal über diese Berge geht, gilt Tour de France-Sieger Chris Froome als Top-Favorit.

Martin indes ließ sich nicht abschrecken. Er reduzierte mit Blick auf Rio sein Gewicht und intensivierte sein Bergtraining. Bisher mit wechselhaftem Erfolg. Zwar legte er bei der Tour-de-France-Etappe über den Tourmalet wieder so eine Tony-Martin-Freakshow hin, als er mit dem späteren Bergkönig der Tour und aktuellem Olympiadritten im Straßenrennen Rafal Majka und dem früheren Tour-Dritten Thibaut Pinot davonzog.

Bei den Tourzeitfahren blieb er aber blass. Etwas Hoffnung konnte er vom Straßenrennen in Rio jedoch mitnehmen. Da fuhr er vier Mal über den Grumari-Kurs und initiierte als verschärfte Wettkampfbelastung auch noch die Fluchtgruppe, in der lange Zeit der Berliner Simon Geschke mitfuhr. Er merkte auch, dass das lädierte Knie hielt. Nüchtern betrachtet hat Martin dennoch nur geringe Chancen auf Edelmetall. Froome, Dumoulin, Dennis und Kiriyenka sind als stärker einzuschätzen. Mancher Bergfahrer könnte auch noch überraschen. Die Entschlossenheit, mit der er seine Minimalmöglichkeit angeht, beeindruckt aber. Martin ist, wie Millar erzählt, eben ein „unfassbarer Freak“, der Sachen macht, die eigentlich nicht gehen.

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