Fußball-Nationalmannschaft: Thomas Müller bringt sich in WM-Form
Thomas Müller schien seine Leichtigkeit verloren zu haben, doch kaum steht die Weltmeisterschaft an, wird der Spieler des FC Bayern München mehr und mehr der Alte.
Es gab am Freitagabend in Düsseldorf wirklich nicht viel zu meckern. Die Zuschauer hatten ein mehr als unterhaltsames Fußballspiel zwischen der deutschen und der spanischen Nationalmannschaft gesehen, aber natürlich findet man auch an einem solchen Abend ein paar Details, die sich noch verbessern lassen. Die Performance des Stadionsprechers zum Beispiel. Bei der Mannschaftsaufstellung der Spanier kam er beim Namen des Trainers (Lopetegui) ein wenig ins Stocken, dem Bayern-Spieler Thiago Alcantara stahl er bei dessen Auswechslung die letzte Silbe, und als er in der Pause mit Ulf Kirsten plauderte, konfrontierte er den früheren Nationalspieler mit der Feststellung: „Ein typisches Müller-Tor, oder?“
Ulf Kirsten hätte sämtliche Fußballfachkenntnis verleugnen müssen, wenn er dieser Aussage zugestimmt hätte. Typische Müller-Tore sehen anders aus; typische Müller-Tore werden irgendwie reingewurschtelt, mit unmöglichen Körperteilen, aus unmöglichen Winkeln, aber mit Vorliebe aus dem Strafraum heraus. Dieser Treffer allerdings, das Tor zum 1:1-Endstand gegen Spanien, war von einer für Müller eher untypischen Ästhetik, erzielt mit der Innenseite des rechten Fußes aus ziemlich genau zwanzig Metern.
„Zugegeben, es kommt nicht alle Tage vor, dass ich außerhalb vom Strafraum treffe und es dabei auch noch so leicht aussieht“, hat Müller später erzählt. Typisch oder nicht typisch? „Jedes Tor ist ein Müller-Tor“, antwortete er. Es gibt kaum einen Fußballer, der so sehr mit seinen Toren identifiziert und über sie definiert wird. Was allerdings im Umkehrschluss zu der Frage führt: Wer oder was ist Thomas Müller ohne Tore?
Bei der EM in Frankreich ging Müller leer aus
„Thomas Müller macht immer wichtige Tore“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. Sein Treffer war insofern wichtig, als er eine Niederlage gegen Spanien verhinderte und damit auch eine vermutlich emotionale Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit der Nationalmannschaft mit Blick auf die Weltmeisterschaft im Sommer. Das Tor war aber vor allem für Müller selbst wichtig. Es war sein erstes für die Nationalmannschaft seit ziemlich genau einem Jahr, als er beim 4:1-Sieg im WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan das zwischenzeitliche 2:1 erzielte. Und es ist noch nicht vergessen, wie sich das Bewegungstalent Müller durch die EM in Frankreich geschleppt hat, wie er vor jedem Spiel mit seiner anhaltenden Torlosigkeit konfrontiert wurde – und versuchte, sich davon nicht verrückt machen zu lassen. Was wohl nur oberflächlich gelang.
Thomas Müller, Torschützenkönig der WM 2010 und bester deutscher Torschütze beim Titelgewinn 2014, traf in Frankreich kein einziges Mal. Und auch im Verein, beim FC Bayern München, schien ihm in der Folge die alte Leichtigkeit und Unbekümmertheit abhanden gekommen zu sein. In der Saison vor der EM kam er noch auf zwanzig Saisontore in der Bundesliga; in der Spielzeit danach waren es nur noch fünf.
Diesen Wert hat er in der laufenden Saison mit sechs Treffern bereits übertroffen. Müller ist einer der großen Profiteure des Trainerwechsels bei den Bayern. Er schätzt Jupp Heynckes, und Jupp Heynckes schätzt ihn. Dieses Gefühl, gebraucht zu werden, tut ihm definitiv gut. Es ist keine Rede mehr davon, dass Müller nach knapp zehn Jahren auf höchstem Niveau seinen jugendlichen Zauber bereits endgültig eingebüßt haben könnte.
Man kann es sich natürlich auch einfach machen und sagen: Es ist halt bald wieder Weltmeisterschaft. Null Toren bei zwei EM-Endrunden stehen zehn Tore bei zwei WM-Endrunden gegenüber. „Grundsätzlich versuche ich immer, mein Bestes zu zeigen“, sagt Müller. „Ich weiß aber auch nicht, wieso das in WM-Jahren scheinbar besser klappt.“
In Berlin gegen Brasilien ist Müller nicht dabei
Man ist geneigt, bei Thomas Müller alles für naturgegeben zu halten: seine Umtriebigkeit, seinen Instinkt für Räume und seinen Torabschluss. Manches kann man vielleicht tatsächlich nicht lernen; so ein Tor wie gegen die Spanier allerdings schon. Müller erzählte später, dass er diesen Schuss „mit der Innenseite ohne viel Effet“ schon beim Aufwärmen ein paar Mal probiert habe, und sein Münchner Mannschaftskollege Mats Hummels berichtete, dass Müller diese Variante auch im Training immer wieder übe. „Ich bin ein großer Fan davon, wenn sich Leute so was durch Fleiß aneignen und sich das dann so auszahlt“, sagte Hummels.
Mit dem Treffer gegen Spanien, seinem 38., rückte Müller an Oliver Bierhoff vorbei unter die Top Ten der deutschen Länderspieltorschützen. Und an Einsätzen für die Nationalmannschaft (90) hat der 28-Jährige nun mit Rudi Völler gleichgezogen. Auf sein 91. Länderspiel aber muss Müller mindestens zwei Monate warten. Für die Begegnung gegen Brasilien am Dienstag im Berliner Olympiastadion hat der Bundestrainer ihm frei gegeben. Es ist eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Sie nimmt Müller die Möglichkeit, am 15. Juli in Moskau in seinem 100. Länderspiel Weltmeister zu werden.
Aber so, wie man Thomas Müller, kennt wird es ihm herzlich egal sein, sollte er bereits in seinem 99. Länderspiel Weltmeister werden.