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Symbol der Widerstandskraft. Die französische Mannschaft, hier beim Jubel nach dem 1:0-Führungstreffer von Olivier Giroud gegen Deutschland.
© AFP

Fußballprofis und der Terror in Paris: "Spieler müssen Verantwortung für ihr Land übernehmen"

Mentaltrainer Steffen Kirchner spricht über Möglichkeiten des Verarbeitens der Ereignisse von Paris und die Rolle, die insbesondere der französischen Nationalelf jetzt zukommen kann.

Herr Kirchner, welche Auswirkungen werden die Anschläge von Paris auf die französischen und deutschen Fußball-Nationalspieler haben?

Das ist für die Spieler ein leicht traumatisches Ereignis. Die Nacht im Stadion, die ganzen Ängste, die Panik drumherum. Das verändert die Kultur eines Teams.

Wird irgendein Spieler, der in Paris dabei war, noch einmal unbelastet an ein Fußballspiel herangehen können?

Das glaube ich schon. Man war vor Ort, aber nicht wirklich betroffen, eher Zuschauer. Es bleibt im Kopf, man wird immer wieder daran zurückdenken. Aber mit etwas Abstand und einer guten sportpsychologischen Betreuung kann das gut verarbeitet werden.

Wie kann die psychologische Aufarbeitung konkret erfolgen?

Es ist wichtig, dass man solche Dinge nicht verdrängt, sondern darüber offen spricht. Man muss es im Team besprechen, es verarbeiten.

Möglichst bald?

Wenn wirklich eine tatsächliche Gefahr bestand und Angst im Spiel war, sollte man es schnell machen. Andernfalls kann man sich auch ein bisschen Zeit lassen. Dass die deutschen Spieler am Sonnabend zunächst zu ihren Familien gefahren sind, ist grundsätzlich gut, weil das Thema Verbundenheit Sicherheit gibt. Die einzige Emotion, die gegen Angst hilft, ist Verbundenheit. Das ist aber auch die Chance für eine Mannschaft.

Wie meinen Sie das?

Man fragt sich bei solchen Sachen: Was macht das alles für einen Sinn, was ich hier tue? Diesen Sinn kann man dann als Mannschaft definieren, als eine Art Transfer. Wofür spielen wir denn eigentlich? Somit kann man diese schrecklichen Vorfälle auch in etwas Positives wandeln. In den größten Schicksalsschlägen steckt auch ein großes Wachstums- und Energiepotenzial. Natürlich wird die Aufarbeitung für die Franzosen aber eine komplexere Aufgabe als für die deutschen Spieler.

Warum ist es für die deutsche Mannschaft leichter?

Aus Sicht der deutschen Fußballer würde ich die Geschichte nicht zu groß machen. Das klingt hart, aber es bringt einfach nichts. Wirklich schlimm betroffen sind die Menschen, die verletzt sind oder Angehörige verloren haben. Man kann sich auch eine Traumatisierung herbeireden. Das kann nicht nur die Leistung blockieren, sondern auch die Lebensqualität zerstören.

Was sollte Joachim Löw jetzt tun?

Er sollte ein paar intensive Gespräche mit Hans-Dieter Hermann führen, dem sehr, sehr guten Sportpsychologen der Nationalelf. Ich würde ihm mehr Raum geben für die sportpsychologische Betreuung, aber das weiß Joachim Löw sicher selber.

Und wie sieht es bei der französischen Mannschaft aus?

Dieses Spiel hat beide Mannschaften verändert. Das gilt aber für die Franzosen noch mehr, weil sie die Heimmannschaft sind und es in Paris passiert ist. Die haben eine viel stärkere emotionale Bindung. Dieses Ereignis kann deshalb für sie auch eine Inspiration sein, eine Gemeinschaft, ein Zusammenstehen vorzuleben. Nun kann man tatsächlich Vorbild sein. Indem man nun eine Botschaft, eine höhere Aufgabe aus den schrecklichen Vorfällen ableitet und innerhalb des Teams formuliert.

Welche Botschaft könnte das sein?

Die Spieler müssen jetzt Verantwortung übernehmen für ihr Land. Frankreich darf nicht in Schockstarre versinken. Es muss weitermachen. Auch die Fußballspieler.

Die französische Nationalmannschaft als Symbol der Widerstandskraft – werden die nächsten Spiele und auch die EM im kommenden Jahr also mit dieser Frage aufgeladen werden?

Für die Franzosen steht die EM im eigenen Land nun unter einem ganz anderen Stern. So schlimm, wie sie sind, sind diese Anschläge auch extrem verbindend. Die Mannschaft könnte das so erfahren und daraus den Schluss ziehen: Wir machen das nicht mehr nur für uns. Wir machen es tatsächlich für unser Land, für die Menschen, die dort gestorben sind. Die französische Nationalmannschaft könnte für das Volk ein Symbol für eine Jetzt-erst-recht-Mentalität sein. Sie könnte ihm den Glauben an die Stärke der eigenen Nation zurückgeben. Ähnlich wie damals das Wunder von Bern den Deutschen.

Steffen Kirchner, 33, betreute als Mentaltrainer die deutsche Turner-Nationalmannschaft sowie diverse Profisportler. Als Manager wurde er 2008 Volleyball-Meister mit Vilsbiburg.
Steffen Kirchner, 33, betreute als Mentaltrainer die deutsche Turner-Nationalmannschaft sowie diverse Profisportler. Als Manager wurde er 2008 Volleyball-Meister mit Vilsbiburg.
© AFP/Fife

Es klingt fast zynisch: Die Sportler erleben ein Inferno aus nächster Nähe mit und sollen schon ein paar Tage später spielen, als sei nichts geschehen?

Man muss der Trauer, dem Schock Raum geben. Man darf das auf keinen Fall verdrängen. Aber man sollte es nicht größer machen, als es für einen persönlich ist. Dann begibt man sich sehr schnell in eine kleine Opferrolle. Man lässt sich einschüchtern. Und das ist genau das Ziel der Attentäter.

Sollten die Spiele England gegen Frankreich und Deutschland gegen die Niederlande am Dienstag also stattfinden?

Aus sportpsychologischer Sicht: eindeutig ja. Wenn die Spieler seelisch und emotional dazu in der Lage sind, dann sollten sie auf alle Fälle spielen. Ein guter Spieler braucht viel positive Energie. Je länger ich mich an einem Problem festklammere, desto stärker verändere ich den biochemischen Cocktail im Körper. Der begünstigt dann, dass ich in depressive Phasen kommen könnte. Deswegen ist es wichtig, aktiv zu sein, weiterzumachen, positiv zu denken, früh wieder zu trainieren. Auch wenn es einen Todesfall im privaten Kreis gibt, muss man der Trauer und den negativen Gefühlen Raum geben. Aber dann muss man wieder für das kämpfen, was einem wichtig ist. Die Aktivität ist das beste Heilmittel gegen traumatische Schockzustände.

– Das Gespräch führte Christian Hönicke.

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