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Halt in schwieriger Zeit. Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps lehnt sich an Joachim Löw (links) an. Unmittelbar zuvor hat Deschamps von den Anschlägen in Paris erfahren.
© imago/Ulmer
Update

Deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Paris: "Ein dumpfer Knall, der alles verändert hat"

Die deutschen Fußball-Nationalspieler erfahren erst in der Kabine von den Anschlägen und erleben bis zum Abflug in die Heimat beklemmende Stunden.

Didier Deschamps tut das, was er vermutlich immer nach dem Abpfiff eines Fußballspiels tut. Er begibt sich aufs Spielfeld, um seinen Spielern zu gratulieren. In diesem Moment tritt jemand im Outfit des französischen Fußballverbandes an ihn heran und spricht ihm ein paar relevante Informationen ins Ohr. Deschamps’ Blick wird starr, er hält die Hand vor den Mund. Der Trainer der französischen Nationalmannschaft macht kehrt, geht zu seinem deutschen Kollegen Joachim Löw, gibt ihm die Hand und umarmt ihn kurz.

Es ist der Moment, in dem selbst die Illusion stirbt, dass im Stade de France, im Pariser Vorort St. Denis, gerade ein Fußballspiel stattgefunden hat.

„Es war ein dumpfer Knall, der alles verändert hat“, heißt es am Tag danach in einer offiziellen Stellungnahme der Nationalmannschaft zu den Ereignissen von Paris. Eine gute Viertelstunde ist gespielt, als es kurz hintereinander zweimal knallt. In Fußballstadien ist das erst einmal nichts Ungewöhnliches. Pyrotechnik ist eine Art Fetisch der Ultra-Bewegung, und selbst wenn die Detonation lauter klingt als bei einem Böller, die Druckwelle auf der deutschen Bank zu spüren sein soll, denken sich viele erst einmal nichts Schlimmes dabei. Das Spiel läuft weiter, als wäre nichts passiert – obwohl Hubschrauber über der Gegend kreisen und Sirenen zu hören sind.

„Erst in der Kabine haben wir mitbekommen, was passiert ist“, berichtet Oliver Bierhoff später. Der Manager der Nationalmannschaft hat auf der Tribüne aber schon vorher zumindest eine Ahnung davon bekommen, dass etwas Außergewöhnliches passiert sein muss. Der französische Präsident François Hollande ist nach der Pause nicht auf die Ehrentribüne zurückgekehrt, Bierhoff beobachtet, dass auf den Rängen viel getuschelt wird und Informationen überbracht werden.

In der Mannschaftskabine herrschte eine beklemmende Stimmung

Bundestrainer Joachim Löw hatte auf der deutschen Bank schon früh ein schlechtes Gefühl. Als es knallt, muss er an die Ereignisse des Vormittags denken, an die Bombendrohung gegen das deutsche Mannschaftshotel: „Ich konnte mir in etwa ausmalen, was das sein wird“, sagte Löw über die Detonationen. Am Vormittag hatten die Spieler und der Trainerstab innerhalb von zwei, drei Minuten ihr Hotel räumen müssen. Nach der Entwarnung zwei Stunden später vermuteten viele einen schlechten Scherz hinter dem Anruf, angesichts der realen Terroranschläge am Abend aber erscheint auch die Drohung plötzlich in einem ganz anderen Licht. „In der Kabine herrschte große Unsicherheit, große Angst und eine beklemmende Stimmung“, berichtet Bierhoff. „Man hat gemerkt, wie geschockt die Spieler sind.“

Zu diesem Zeitpunkt weiß niemand genau, was passiert ist; niemand kennt die Dimension des Grauens – und niemand weiß, wie es weitergehen soll. Die Spieler erhalten besorgte Anrufe und Nachrichten aus der Heimat, andere wollen ihre Familien informieren. Dass das Gerücht umgeht, die Attentäter hätten es eigentlich auf das Stade de France abgesehen, trägt auch nicht gerade zur Beruhigung bei.

An selber Stelle soll in acht Monaten das Finale der Fußball-Europameisterschaft stattfinden. Reinhard Rauball, der Interimspräsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), äußert in einem Interview mit der ARD seine Hoffnung, dass die Sicherheitskräfte die richtigen Schlüsse aus den traurigen Ereignissen zögen. Aber die EM ist in diesen Momenten weit weg. Und so pervers es auch klingen mag: Vermutlich ist das Stadion in diesen Stunden einer der sichersten Orte in Paris. Zu diesem Ergebnis gelangen schließlich auch die deutschen und französischen Sicherheitsleute. Eine Rückkehr der Mannschaft in ihr Hotel wird als zu riskant eingestuft.

Der gesamte Tross des DFB verbringt die Nacht in der Kabine

Es sind beklemmende Stunden. Der gesamte Tross des DFB, Spieler, Trainer, Betreuer und die offizielle Delegation, verbringen die Nacht in der Kabine. Gut 60 Personen sind es, die dort versuchen, ein wenig Ruhe zu finden, sich austauschen, Musik hören, die Nachrichten verfolgen, sich zum Schlafen auf die Massagebänke oder die eigens herangeschafften Matratzen legen. Die Nachricht, dass die Deutschen das Stadion in der Nacht verlassen haben, ist nur ein Täuschungsmanöver, weil niemand absehen kann, wie groß die Gefährdung der Mannschaft ist.

Auch das französische Team bleibt im Stade de France – aus Solidarität mit den Deutschen, die das Stadion aus Sicherheitsgründen nicht verlassen dürfen. Tags darauf sagt der französische Verband alle geplanten Aktivitäten für den Samstag – ein Fan-Treffen, eine Pressekonferenz, ein öffentliches Training – ab. Mindestens zwei Nationalspieler waren persönlich betroffen. Während eine Schwester von Antoine Griezmann aus der Konzerthalle Bataclan, in der mindestens 80 Menschen getötet wurden, entkommen konnte, bestätigte Mittelfeldspieler Lassana Diarra am Abend, dass eine seiner Cousinen bei den Anschlägen ums Leben gekommen sei..

Trotz allem wird die französische Nationalelf am Dienstag wie geplant zum Freundschaftsspiel gegen England im Londoner Wembleystadion antreten. Das bestätigte Verbandspräsident Noël Le Graët. Für die Deutschen steht am selben Abend in Hannover ein Test gegen Holland an. „Ich bin dafür, dass gespielt wird“, sagt Reinhard Rauball. „Man darf denen, die uns das angetan haben, nicht den Triumph gönnen.“ Doch endgültig darüber entscheiden will der DFB erst am Sonntag. Auch Co-Präsident Rainer Koch tendiert eher dazu, das Spiel wie geplant auszutragen: „Grundsätzlich sehe ich den DFB und die Nationalmannschaft in der gesellschaftspolitischen Verantwortung, das klare Zeichen auszusenden, dass unser Rechtsstaat dem Terror nicht weichen darf.“

Es ist fast auf den Tag genau sechs Jahre her, dass der DFB zuletzt ein Länderspiel abgesagt hat. Das war im November 2009, nach dem Selbstmord des Nationaltorhüters Robert Enke. Möglicherweise war die persönliche Betroffenheit der Nationalspieler damals größer, trotzdem wird es in solchen Fällen immer unterschiedliche Meinungen darüber geben, ob die Entscheidung – spielen oder nicht spielen – nun richtig oder falsch sei.

Am Sonntag wird entschieden, ob gegen die Niederlande gespielt wird

Eigentlich hat die Nationalmannschaft die Abreise aus Paris erst für Sonntagmittag geplant; vermutlich hätte Bundestrainer Löw den Spielern den Tag nach dem Spiel frei gegeben. Doch schon in der Nacht ist unter Spielern und Betreuern immer stärker der Wunsch zu verspüren, so schnell wie möglich in die Heimat zurückzukehren. Im Morgengrauen wird der DFB-Konvoi schließlich von einer Polizeieskorte unter Blaulicht vom Stadion über die Autobahn zum Flughafen Charles de Gaulle gebracht. Um zehn Uhr landet die Mannschaft in Frankfurt am Main.

Bundestrainer Löw hat am Morgen noch eine kleine Ansprache gehalten, in der er sich für die Ruhe, die Disziplin und das Zusammengehörigkeitsgefühl bedankt. Nach der Landung sollen die Spieler in ihre Heimatorte zurückkehren, damit sie in ihrem privaten Umfeld „erst mal durchatmen“ können, wie Oliver Bierhoff erklärt. Ob und wann sie sich in Hannover treffen, entscheidet sich heute.

Die Stellungnahme, die das Team am Mittag veröffentlicht, schließt mit den Worten: „Wir haben am Freitag ein Fußballspiel verloren – und es gibt nichts, was in diesem Moment unwichtiger war.“ Im Grunde gilt das schon jetzt auch für das Spiel, das am Dienstag in Hannover stattfinden soll. (mit dpa)

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