Zum Rücktritt von Bastian Schweinsteiger: Schweini gehabt
Kapitän Bastian Schweinsteiger hört auf im Nationalteam. Zu spät, sagen einige. Doch er hat eine Ära geprägt, nicht nur im Fußball.
Im Nachhinein kann Bastian Schweinsteiger Sergio Aguero fast dankbar sein. 108 Minuten waren gespielt, damals, im Maracana-Stadion, Rio de Janeiro, als beide Finalisten in die Lüfte stiegen und der Argentinier dem Deutschen die Hand ins Gesicht rammte. Danach floss, direkt unter Schweinsteigers Auge, Blut die Wange hinab. Es sah aus, als weine er rote, wütende Tränen. Kevin Großkreutz stand schon an der Seitenlinie zu seiner ersten Einwechslung des WM-Turniers bereit, doch dazu sollte es nie kommen. Schweinsteiger blieb im Spiel, er verwand die Wunde, wie er all den Schlägen und Tritten der Argentinier getrotzt hatte. Selbst im Augenblick des Abpfiffes, der Deutschland zum Weltmeister machte, bekam er noch einen Ellbogen in den Rücken und ging zu Boden. Mehr noch als alle Schläge und Tritte der Argentinier waren es Agueros Handknöchel, die Schweinsteiger als den eigentlichen Helden des Endspiels markiert hatten, als Symbolfigur, die sich für den größten Titel aufgeopfert hatte. Noch im Jubel, mit der Deutschland-Fahne um die Hüften humpelnd, klaffte der Cut auf. Eine Nation verneigte sich ehrfürchtig vor dem „deutschen Gladiator“ („FAZ“). Es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, einen Schnitt zu machen.
Bei seinem letzten Länderspiel war Schweinsteiger die tragische Gestalt
Er hat ihn erst zwei Jahre später gemacht, kurz vor seinem 32. Geburtstag. „Ich habe soeben den Bundestrainer gebeten, mich in Zukunft nicht mehr zu berücksichtigen“, schrieb er am Freitag. Nach zwölf Jahren und 120 Länderspielen macht Bastian Schweinsteiger nun Schluss mit Deutschland. Der Höhepunkt 2014 lasse sich nicht wiederholen, resümiert der Kapitän in seinem Abschiedsbrief, das Ende sei jetzt „richtig und vernünftig“.
Zuletzt hatte sich eine Nation gefragt, ob es nicht richtiger und vernünftiger gewesen wäre, früher zu gehen. Nachdem er sich im Juni durch Frankreich geschleppt hatte, war der Halbfinalist in Marseille erneut in die Luft gestiegen. Diesmal war es die eigene Hand am Ball, die ihn als tragische Gestalt aus der Europameisterschaft gehen ließen. Dass Schweinsteiger erneut den Schmerzen getrotzt hatte, wollte ihm diesmal niemand danken. Seine Zukunft hatte er danach offen gelassen. „Es sollte nicht sein und das muss ich akzeptieren“, schrieb er nun über den einzigen Titel, den er nicht gewinnen konnte.
Schweinsteigers Entwicklung ließ sich an seinen Haaren ableiten
Und dennoch hat Bastian Schweinsteiger eine Ära geprägt, die Deutschland verändert hat und das nicht nur im Fußball. Der Bayer aus Oberaudorf bei Rosenheim war nie einfach nur ein Profikicker, „Schweini“ war stets Projektionfläche für Hoffnung, Zuneigung und Enttäuschung. Schweinsteigers Entwicklung ließ sich an seinen Haarspitzen ablesen, vom blondierten Jüngling über den streng gescheitelten Gentleman bis zum ergrauten Altwolf. Alles begann, als die Nationalmannschaft 2004 in einer Talentkrise steckte. Teamchef Rudi Völler rief zwei 19-Jährige herbei: Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger. Obwohl die EM damals nach der Vorrunde endete, stand das Duo „Schweinipoldi“ für eine bessere Zukunft, dafür, die Generation Nowotny/Jeremies/Hamann zu überwinden. Schon bei der WM 2006 waren sie die Märchenbuben, die ein offeneres, fröhlicheres und sorgenfreieres Deutschlandbild transportierten.
Er war Toni Kroos, bevor Toni Kroos die Regie übernahm
Dass Schweinsteiger, keine ausgeprägte Tempo- und Dribblingbegabung, sich die erste Hälfte seiner Karriere als Flügelstürmer verdingte, verdeutlicht die Nöte damals. Erst Louis van Gaal sah den lange verkannten Lehrling bei Bayern München in zentraler Rolle, was Bundestrainer Joachim Löw zur WM 2010 kopierte. Als Metronom im Mittelfeld gab Schweinsteiger den Takt vor zu dem vielleicht atemberaubendsten Fußball, den Deutschland je gespielt hat. Er war sozusagen Toni Kroos, bevor Toni Kroos die Regie übernahm. Schweinsteiger verlegte sich auf seine kämpferischen Komponenten und rückte weiter nach hinten. Doch drohte er, trotz Titeln mit München, als Unvollendeter in die Geschichte einzugehen. Spätestens nach dem Scheitern in vier Wettbewerben 2012 samt dem verschossenen Elfmeter „dahoam“. Das Triple mit Bayern und der Triumph in Rio verhinderten das. Dabei war sein Körper schon damals geschunden, in Brasilien kam er noch einmal auf Touren. Anders als Philipp Lahm, Per Mertesacker und Miroslav Klose war für ihn danach noch nicht Schluss. Der emotionale Anführer bekam nun offiziell das Kapitänsamt zugesprochen. Die Binde konnte er seitdem selten tragen, die letzten beiden Saisons, bei Bayern und Manchester United, verpasste er je zur Hälfte. Einer hielt ihm dennoch die Treue. „Ich als Trainer habe viel von ihm profitiert“, bedankte sich Löw am Freitag. „Wir konnten uns zu jeder Zeit über sportliche und menschliche Themen austauschen.“ Sein Verhalten habe die Mannschaft geprägt.
Steht der "Oldboy" auch in Manchester vor dem Aus?
Für Schweinsteiger selbst war das Nationalteam „immer eine wertvolle Familie“, der er hoffe, in irgendeiner Form erhalten zu bleiben. Zuletzt hatten oft andere die Familie geleitet, Manuel Neuer, Jerome Boateng und Sami Khedira trugen bereits die Binde und könnten nun offiziell Nachfolger werden. Lukas Podolski bleibt als humoristischer Leader dabei. Auch ihm scheint es schwer zu fallen, zu erkennen, wann die Entwicklung, die man selbst mit angestoßen hat, einen überholt hat.
Mit 31 Jahren wirkte Schweinsteiger früh gealtert, „11 Freunde“ nannte ihn „Oldboy“. Anders als „Poldi“, der in London, Mailand und Istanbul stets der Junge aus Köln blieb, erlebte der Mann, den sie „Schweini“ nannten, einen Wandel zum Weltstar, zuletzt mit Traum-Hochzeit in Venedig. Der Münchner Junge, der sich oft in seinem Viertel sehen ließ, scheint in andere Sphären entschwunden. Bei Manchester United, heißt es, könnte er bald ganz entschwinden. Er stünde auf einer Streichliste, heißt es in englischen Medien. Dabei steht der neue Trainer José Mourinho eigentlich auf Typen wie Bastian Schweinsteiger: Führungsfiguren mit Kämpferherz, die für ihr Team bluten.