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Bis zu 25 000 Fans finden Platz beim Public Viewing an der Lomonossow-Universität Platz.
© AFP

WM-Proteste: Public Viewing: Russland unterdrückt Proteste

Lange haben Studenten gegen das Fifa-Fanfest protestiert, das auf ihrem Campus in Moskau stattfindet. Einige wurden verhaftet, andere fürchten um ihre Zukunft.

Ein Mann schreit. „Put your hands up in the air!“ Und dann strecken einige Besucher ihre Hände nach oben, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, Selfies vor dem lustigen Maskottchen zu machen oder an einer Torwand einen Ball in ein Loch zu schießen. „Put your hands up in the air!“ Als die Musik einsetzt, massiert der Bass den Boden, der Beton vibriert, noch drei Kilometer entfernt, an der Metrostation Kiewskaja hört man die Beats, die an Ausschussware aus DJ Bobos Frühwerk erinnern.

Der Sound ist blechern. Es klingt, als versuche jemand, die Tonsignale durch ein überdimensionales Dosentelefon zu verstärken. Ein Top-DJ aus Russland sei der Mann auf der Bühne, sagt ein Fan im Trikot der Sbornaja. Einer, der richtig Stimmung macht. Ach ja, später zeigen sie noch das Eröffnungsspiel Russland gegen diese Mannschaft aus Arabien. Saudi-Arabien? Genau! Kannst du ein Foto von uns machen? „Put your hands up in the air!“

Fifa-Fanfeste sind im Grunde wie RTL2. Übertrieben laut, übertrieben grell, übertrieben krawallig. Eigentlich ist das alles kein Problem, man muss ja nicht einschalten, und man muss auch nicht hingehen. Bloß was passiert, wenn der lärmende Partymob plötzlich vor der eigenen Tür steht? Alexander Bikow hat es erlebt. Er ist Kopf einer Initiative, die gegen das Fifa-Fanfest protestiert. Denn in Moskau findet dieses Halligalli- Event auf dem Campus der Lomonossow-Universität statt, der größten Universität Russlands. „Die meisten Studenten leben und lernen quasi in der Fanzone“, sagt Bikow. „Jeden Tag findet vor ihrer Tür eine Party mit mehreren Zehntausend Fans statt. Und das in einer Zeit, in der die wichtigen Prüfungen anstehen.“

Die Fifa reagierte nicht

Bikow ist 25 Jahre alt und hat Simulationswissenschaft und Angewandte Mathematik studiert. Im vergangenen Jahr hat er seinen Abschluss gemacht, etwa zur selben Zeit beschloss die Stadt, das Fanfest vor der Universität auszurichten. Es ist ein wunderschönes Areal, das oberhalb des Luschniki-Stadions liegt. Man nennt es den Moskauer Balkon, denn von hier kann man die komplette Stadt überblicken. Für Bikow war direkt klar: Er wird, auch wenn er nicht mehr eingeschrieben ist, seine ehemaligen Kommilitonen nicht im Stich lassen.

Halligalli in Russlandfarben. Bei den Public Viewings in Russland geht es ebenso kitschig zu wie auf deutschen Fanmeilen.
Halligalli in Russlandfarben. Bei den Public Viewings in Russland geht es ebenso kitschig zu wie auf deutschen Fanmeilen.
© AFP

Sie sammelten Unterschriften, gingen an die Presse, organisierten Demos und machten über Social Media auf ihr Anliegen aufmerksam. Wenige Wochen vor der WM formten sie vor dem Hauptgebäude eine 400 Meter lange Menschenkette. „Get up, stand up“ statt „Put your hands up in the air“. Aber es war alles ohne Erfolg. Bis heute. Trotzdem oder gerade deswegen ist es wichtig, diese Geschichte nicht zu vergessen, denn sie erzählt viel über die Ignoranz der Fifa, aber noch mehr darüber, wie in Russland mit Protest umgegangen wird. Public Viewing ist fast so alt wie die WM selbst.

Schon während der WM 1954 versammelten sich Menschen vor Schaufenstern von Elektrofachgeschäften, in denen die Inhaber die Ausstellungsfernseher angestellt hatten. Später wechselten sie in die großen Kaufhäuser. 1986 zeigten etwa etliche Filialen von Hertie die Spiele in ihren Sportabteilungen, samt Mexiko-Dekoration. Das heutige Public Viewing – ein Neologismus, das im Englischen eher die öffentliche Präsentation einer Sache meint – wurde 2002 erstmals in Südkorea und Japan durchgeführt. 2006 erlebte es bei der WM in Deutschland vor allem in Berlin einen riesigen Hype. Es war die größte Fifa- Fanmeile aller Zeiten.

Belastung für Mensch und Umwelt

In Russland finden offizielle Fifa-Fanfeste in jedem WM-Ort statt. Es sind Fifa-Wunderländer mit Fifa-Produkten und Fifa-Stimmung. Treffpunkte für Anhänger, die keine Karten für die Spiele bekommen haben, die aber trotzdem laut und exzessiv mit Zehntausenden zwischen Fressständen, Amüsierbuden und riesigen Leinwänden feiern wollen.

Alexander Bikow ist keiner, der diese Art der Feierei ablehnt. Zumindest möchte er nicht verbittert klingen: „Es macht bestimmt auch Spaß. Aber es ist wirklich zu viel. Die Massen belasten ja nicht nur die Menschen und die Architektur, sondern auch die Umwelt. Einige Bäume wurden gefällt und Tiere gezwungen, die Gegend zu verlassen.“

Anfangs suchten die Studenten einen Dialog mit Arkadi Dworkowitsch, dem Chef des Organisationskomitees. Er versprach, nach anderen Orten für das Fanfest zu suchen. Bikow dachte etwa an den Roten Platz, einen großen Park oder die Gegend um die Metrostation WDNCh. Dworkowitsch hörte sich die Ideen an, eine Schallwand würden sie auf jeden Fall errichten. Aber es geschah nichts. Auch Briefe an die Fifa blieben unbeantwortet. Das Raumschiff des Weltverbandes war längst im Anflug auf den Campus. Wer waren schon die paar hundert Studenten gegen die 25 000 jubelnden Menschen, die ihre Hands in the air strecken wollten?

Heute, wenige Tage vor Ende der WM, trauen sich die Studenten nicht mehr, darüber zu sprechen. Sie haben Angst vor Konsequenzen. Viele haben sogar Sorge, dass sie keinen Job mehr in Russland bekommen, weil sie als kritische Demonstranten gebrandmarkt sind. Einmal, erzählt Bikow, verschwanden über Nacht drei Demonstranten, niemand wusste wo sie waren. Irgendwann tauchten sie wieder auf, sie waren verhaftet worden. Andere wurden zu Wiktor Sadownitschi zitiert, dem Uni-Rektor, der als Anhänger von Präsident Wladimir Putin gilt.

Protest wird ignoriert und sanktioniert

Als die Studenten ihm im Februar 5000 Unterschriften gegen das Fanfest überreichen wollten, ließ er die Etage, in der sein Büro liegt, abriegeln und sämtliche Aufzüge im entsprechenden Stockwerk lahmlegen. Die regierungskritische Zeitung „Nowaja Gazeta“ berichtete außerdem, dass einige Demonstranten vom Uni-Sicherheitsdienst beschattet wurden. Selbst die Eltern der Studenten hätten Drohanrufe bekommen. Die Ansage: Bringt eure Kinder zur Räson, sonst bekommt ihr Ärger im Job.

Bikow traut sich an die Presse, weil er mittlerweile in Amsterdam lebt. Nach der WM wird er dorthin zurückkehren. Wenn man ihn fragt, wie er die WM erlebt hat, sagt er, dass vieles tatsächlich sehr bunt und freundlich wirkte. Aber schon in wenigen Tagen werde alles wieder sein wie vorher. „Putins Russland hat sich immer schon mehr um das Prestige in der Welt und weniger um die Bedürfnisse der Menschen gekümmert“, sagt er. „Es gibt kein neues Russland. Nichts hat sich durch die WM verändert.“

Andreas Bock

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