Luz Long und Jesse Owens: Olympia 1936 - Wahrheit und Dichtung
Auch nach 80 Jahren faszinieren Hitlers Olympische Spiele ein breites Publikum. Die Kunst ist so frei, die Geschichten rund um Jesse Owens immer noch ein bisschen weiterzudrehen. Dabei ist die Wirklichkeit doch großartig genug.
Zum Schluss weiht der Vorzeige-Arier seinen schwarzen Freund noch in eine geheime Reichssache ein. Irgendwo in den Katakomben des Olympiastadions oder im Olympischen Dorf, so genau ist das nicht auszumachen, kommt es zu einer finalen Begegnung, von der die Welt bisher nichts wusste. Luz Long ist ein bisschen aufgeregt, denn ihn hat gerade ein nicht ganz alltäglicher Parteiauftrag ereilt: Eine große, blonde Vorzeige-Arierin will mit ihm rassenbiologisch wertvolle Nachkommen für Volk, Reich und Führer zeugen. Jesse Owens steht mit offenem Mund und großen Augen da, er schaut Long ratlos an und weiß nicht so recht, was er sagen soll. Also schweigt er, und das ist auch besser so.
Jesse Owens und Luz Long - ihre Begegnung liefert Grundstoff für US-Filmkitsch und Heldenepos
In diesem Sommer jähren sich die Olympischen Spiele von 1936 zum 80. Mal. Es ist die Geschichte des schwarzen US-Amerikaners Jesse Owens, der vor Adolf Hitlers Augen vier Goldmedaillen gewann und darüber hinaus Freundschaft schloss mit seinem Konkurrenten, dem deutschen Weitspringer Luz Long. Für die Nazis war die Erfolgsgeschichte des Jesse Owens der Schönheitsfehler einer gigantischen Propagandaschau, die eine Welt täuschte, die sich nur allzu gern täuschen ließ.
80 Jahre später faszinieren die braunen Spiele ein Publikum, das nicht mehr getäuscht, sondern unterhalten werden will. Die Grenzen sind fließend und die Kunst ist frei. Oliver Hilmes nähert sich in seinem Buch „Berlin 1936“ den 16 olympischen Tagen im Stil von Florian Illies und dessen Bestseller „1913“, mit einer Collage aus Alltagsszenen, Anekdoten und Tagebucheinträgen.
Das Dokudrama "Der Traum von Olympia" erzählt von den Spielen 1936
Arte und die ARD zeigten in den vergangenen Tagen das Dokudrama „Der Traum von Olympia“ aus der Perspektive der Hochspringerin Gretel Bergmann und des Kommandanten des Olympischen Dorfes, Wolfgang Fürstner.
Sie durfte wegen ihrer jüdischen Herkunft nicht an den Spielen teilnehmen, er erschoss sich, weil ihm wegen seiner jüdischen Vorfahren die Entlassung aus der Wehrmacht drohte. Und in der kommenden Woche kommen die Spiele auch ins Kino. Der Spielfilm „Zeit für Legenden“ des australischen Regisseurs Stephen Hopkins erzählt „die unglaubliche Geschichte des Jesse Owens“. So heißt es im Untertitel, und das passt auch ganz gut zu der unglaublichen Anekdote mit dem blonden Luz Long und seiner Rekrutierung für Heinrich Himmlers Lebensborn.
So vieles ist frei erfunden
Nach allem, was bekannt ist, ist dieser Blödsinn frei erfunden. So wie das, was Sandra von Ruffin im Dokudrama aus dem Off erzählt. Mit zitternder Stimme geißelt die Schauspielerin im Namen von Gretel Bergmann Jesse Owens’ Teilnahme an den Spielen als Verrat. Gretel Bergmann ist heute 102 Jahre alt und lebt in New York. In ihren zahlreichen Interviews hat sie sich an viele interessante Details erinnert, aber nie Owens’ ausbleibende Solidarität kritisiert. Dazu jazzen die Filmemacher den Wehrmachtshauptmann Fürstner zum Schöpfer des Olympischen Dorfs hoch und geben ihm damit eine Bedeutung, die er einfach nicht hatte. Fürstner hat das Dorf bewacht, erdacht haben es die Brüder Wolfgang und Walter March.
Die Wirklichkeit ist offenbar nicht genug
Der Historiker Hilmes denkt sich für seine literarische Montage Dialoge zwischen Soldaten der Legion Condor aus und in den Kopf von Berliner Selbstmördern hinein. Nur er weiß, dass sich die Blicke von Adolf Hitler und Tom Wolfe für ein paar Sekunden treffen. Im Olympiastadion lässt er einen jüdischen Jungen von der Gegentribüne aus über die Distanz von 200 Metern die feiste Erscheinung Hermann Görings studieren. Die Wirklichkeit ist nicht genug und bekommt immer noch eine zusätzliche Drehung verpasst.
Kann denn die Geschichte nicht für sich stehen? Ist es nicht großartig genug, dass ein schwarzer Läufer die Rassentheorie der Nazis der Lächerlichkeit preisgibt, vor den Augen der Welt und 100.000 Zuschauern im Olympiastadion inklusive Hitler? Und zur Zugabe noch Arm in Arm mit einem blonden deutschen Modellathleten eine halbe Ehrenrunde dreht?
David Kross spielt Luz Long und kommt ihm ganz nah, jedenfalls nach Inaugenscheinnahme der wenigen Bilder des Leipzigers, der sein Leben 1943 im Krieg ließ. Owens‘ Part übernimmt der Kanadier Stephan James. Er sieht dem Vorbild nicht weiter ähnlich, imitiert aber nahezu perfekt dessen Laufstil. Owens war nicht der Ästhet, als der er in der Retrospektive gern hingestellt wird. Er lief, wie es auch die Nazis gern von ihren Athleten gesehen hätten, wie eine perfekt eingestellte Maschine. 1936 lieben die Berliner ihn, obwohl sie das im braunen Sommer doch gar nicht dürfen, und bis heute verehren sie ihn. Im Olympiastadion gibt es eine Jesse-Owens-Lounge und draußen eine Jesse-Owens-Allee.
Owens schwankt lange, ob er zu Olympia reisen soll
Jesse Owens ist 22 Jahre alt, als er die Reise nach Berlin antritt. Er hat nichts als Laufen im Kopf und ein bisschen Weitsprung. Dennoch schwankt Owens lange, ob er der braunen Diktatur seine Aufwartung machen soll. Im November 1935 sagt er in einem Radio-Interview: „Wenn es in Deutschland eine Diskriminierung von Minderheiten gibt, sollten wir unsere Teilnahme an den Olympischen Spielen zurückziehen.“
Sein Trainer Larry Snyder weist ihn darauf hin, dass die Beliebtheitswerte der Schwarzen auch in den USA nicht gerade durch die Decke schießen. Im Kino ist zu sehen, wie Owens die Duschräume der Universität erst betreten darf, wenn die weißen Football-Jungs fertig sind. „Warum sollten wir gegen Deutschland vorgehen für etwas, was wir genauso bei uns daheim erleben?“, fragt Snyder. Owens gibt nach.
Filmmacher Hopkins bedient den Wunsch nach Einfachheit mit eindeutigen Helden und Schurken
Die Diskussion über einen möglichen Olympia-Boykott wird in den USA sehr lebhaft geführt, sie beleuchtet eindrucksvoll die Schizophrenie der amerikanischen Gesellschaft zwischen dem Alltagsrassismus und der Ablehnung der Nazi-Ideologie. Es ist ein Unternehmer aus Chicago, der die Entscheidung herbeiführt. Avery Brundage, Präsident des Nationalen Olympischen Komitees, setzt die Teilnahme der USA durch. Vorher reist er noch schnell nach Berlin und trifft sich mit Vertretern jüdischer Sportverbände.
Die Feststellung, dass Juden nicht Mitglieder deutscher Sportvereine werden dürfen, kontert Brundage mit der Bemerkung: „In meinem Club in Chicago sind Juden auch nicht zugelassen.“ Die Boykott-Befürworter hält er für Anhänger einer jüdisch-kommunistischen Verschwörung. All das ist bekannt und dokumentiert, aber Stephen Hopkins weist Brundage in seinem Film die Rolle eines unpolitischen Pragmatikers zu, in manchen Szenen wirkt er wie ein Vorkämpfer für die schwarze Emanzipation. Das amerikanische Kino mag einfache Geschichten mit klar definierten Helden und Schurken.
Für Jesse Owens ist Berlin Teil einer anderen Welt
Ein paar Wochen nach der Entscheidung für die Olympiateilnahme reist die amerikanische Mannschaft auf dem Dampfer „Manhattan“ von New York nach Hamburg. Fotos zeigen einen gut gelaunten Owens an Deck beim Weitsprungtraining und bei Sprintübungen. Für den schnellsten Mann der Welt ist es eine Reise in eine andere Welt. In Hamburg und später im Olympischen Dorf in Elstal bei Berlin darf er im selben Gebäude wohnen wie seine weißen Teamkameraden. In New York sind die Hotels der Innenstadt für Schwarze gesperrt.
Owens begeistert sich für die Kulisse des sauberen und glitzernden und perfekt organisierten Berlin. Das Olympische Dorf ein paar Kilometer westlich der Stadt an der Reichsstraße 5 ist für ihn „der Himmel auf Erden“. Er bekommt Post: einen Brief, adressiert an „Jesse Owens, Berlin, Olympic Village“, in dem er aufgefordert wird, bei der Siegerehrung gegen das Nazi-Regime zu protestieren, eine vorformulierte Stellungnahme samt deutscher Übersetzung liegt bei. Die Gestapo fängt das anonyme Schreiben ab.
Owens vergisst auf der Reise nach Berlin seine Laufschuhe
Was Owens so alles zwischen den Wettkampftagen anstellt, lässt sich im Rückblick schwer konstruieren. Bekannt ist, dass die Wehrmacht reichlich Busse bereitgestellt hat für Fahrten zwischen dem Olympischen Dorf und der Berliner Innenstadt. Owens ist Zeit seines Lebens Kettenraucher und er schätzt auch andere Freuden jenseits der Askese. In „Zeit für Legenden“ ist er nicht ein einziges Mal mit einer Zigarette zu sehen und nur einmal mit einer Bierflasche.
Weil Owens beim Packen seines Koffers nicht an die Laufschuhe gedacht hat, wühlt sich sein Trainer Larry Snyder durch die Berliner Sportgeschäfte. In den neuen Schuhen gewinnt Owens über die 100-Meter-Distanz am zweiten Wettkampftag sein erstes Gold. Im Film zerrt ein naiver Avery Brundage den verschwitzten Olympiasieger in die Führerloge, aber Hitler hat das Stadion schon verlassen und steht für einen Händedruck nicht zur Verfügung. Die Geschichte des verweigerten Glückwunschs ist in den vergangenen 77 Jahren oft diskutiert worden und gilt als widerlegt. Lange nach dem Krieg hat Owens erzählt: „Als ich am Kanzler vorbeikam, stand er auf, winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich denke, die Journalisten zeigten schlechten Geschmack, als sie den Mann der Stunde in Deutschland kritisierten.“ Auch dieses Zitat ist belegt, passt aber nicht so schön in eine amerikanische Heldengeschichte.
Viel Dichtung, wenig Beweise
Owens siegt auch über 200 Meter und vier weitere Tage später mit der 4x100-Meter-Staffel, die im letzten Moment auf zwei Positionen geändert wird. Platz machen müssen Sam Stoller und Marty Glickman, die beiden einzigen Juden der US-Mannschaft. Angeblich erfolgt die Änderung auf Wunsch und Anweisung von Joseph Goebbels. Beweise dafür gibt es nicht, nur Indizien und Gerüchte. Tatsache ist, dass die Amerikaner mit der nachträglichen Nominierung von Olympiasieger Owens und dem Zweiten, Ralph Metcalfe, ihre beste Staffel aufbieten und diese in Weltrekordzeit zu Gold läuft. Im Film steht vor diesem Triumph eine herzzerreißende Szene, an deren Ende ein aufgelöster Owens seine jüdischen Kollegen um Absolution bittet. „Sie mussten unsere Ehre retten“, fleht Gretel Bergmann aus dem Off. Wahrscheinlicher ist, dass sie im Sommer 1936 von Stoller und Glickman noch nie ein Wort gehört hat.
Owens Freundschaft mit Long überdauert die Spiele
Den berühmtesten seiner vier Olympiasiege feiert Jesse Owens im Weitsprung. Es ist der Beginn seiner Freundschaft mit Luz Long, sie überdauert die Olympischen Spiele und wird durch regen Briefaustausch am Leben gehalten. Die braunen Machthaber haben den Weitsprung zum „Kampf der Farben" deklariert, sie glauben in ihrem Rassenwahn fest an die Überlegenheit des blonden Europarekordlers Long. Aber der spielt nicht mit. Als Owens in der Qualifikation zu scheitern droht, versorgt ihn der Deutsche mit Zuspruch und guten Ratschlägen.
Wegen Owens’ Hang zum Fabulieren ist die Freundschaft zu Long oft angezweifelt worden, er hat diese Geschichte oft und variierend erzählt. Eindeutig und von 100.000 Augenzeugen im Stadion bezeugt ist die Sympathie, die beide füreinander empfinden. Als im Finale die Führung zwischen beiden hin- und herwechselt, gratulieren sie sich gegenseitig. Später laufen Owens und Long Arm in Arm über die Aschenbahn, ein Foto zeigt sie gedankenverloren im Gras liegen und plaudern.
Es ist das Bild dieser Spiele, bei denen die Nazis rassische Abgrenzung demonstrieren wollten und Versöhnung serviert bekamen, wenn auch nur für ein einziges Mal. Für einen erhabenen Moment, der keiner künstlerischen Überhöhung bedarf.
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