100. Geburtstag von Jesse Owens: Für immer ein Renner
Kein anderer Sportler hat in Berlin so nachhaltig Spuren hinterlassen wie der schwarze Jesse Owens, der im nationalsozialistischen Deutschland mit seinen Sprints faszinierte. Am Donnerstag ist sein 100. Geburtstag.
Wussten Sie, dass Jesse Owens mal in Bautzen gesessen hat?
Nein? Macht nichts, ist ja auch schon ein Weilchen her, und bis heute hält sich die Legende, dass der Star der Olympischen Spiele von 1936 ein paar Wochen in Meißen verbrachte, aber das ist dreiste Geschichtsklitterung. Meißen ist bloß besser erhalten. In Bautzen fehlt das halbe Dach, die Fenster sind mit Backsteinen vermauert und die Inneneinrichtung ist Vandalen und Plünderern zum Opfer gefallen. Wer heute das Olympische Dorf in Elstal besucht, wird dort nicht ins Owens’ Quartier im Haus Bautzen geführt. Sondern nebenan ins Haus Meißen, in einen Nachbau des Zimmers, das Owens damals mit seinem Jugendfreund, dem Hochspringer Dave Albritton bewohnt hat. Zehn Quadratmeter, zwei Betten, zwei Schemel und ein Holztisch, die Toiletten weiter vorn bei den Gemeinschaftsduschen.
Olympia 1936: Ein schwarzer Sprinter im nationalsozialistischen Deutschland
Das Olympische Dorf ist seit ein paar Jahren wieder für die Öffentlichkeit zugänglich. Werner March, der Architekt des Berliner Olympiastadions, hat es in den Umrissen Großdeutschlands gebaut und die Häuser entsprechend ihrer geografischen Lage nach deutschen Städten benannt. Von der Maas bis an die Memel. Die US-Mannschaft wohnte in Sachsen, in den Häusern Chemnitz, Dresden, Meißen oder Bautzen. Gleich neben der Schwimmhalle, es sind nur ein paar Schritte zu der schwarzen Aschenbahn, wo Owens und seine Kollegen damals vier Wochen lang ihre Runden drehten.
Kein Sportler hat in Berlin so nachhaltige Spuren hinterlassen wie James Cleveland Owens, den alle nur Jesse nannten. Am Donnerstag wäre er 100 Jahre alt geworden. Die Berliner liebten ihn, obwohl sie das gar nicht durften, erst recht nicht, nachdem er Hitlers Rassen-Ideologie der Lächerlichkeit preisgegeben hat: Ein schwarzer Untermensch rannte schneller und sprang weiter als alle Arier. Im Olympiastadion gibt es heute eine Jesse-Owens- Lounge und draußen eine Jesse- Owens-Allee. 1980 ist er mit 66 Jahren gestorben. Lungenkrebs, der Mann war Zeit seines Lebens Kettenraucher.
Die Berliner waren fasziniert von Jesse Owens - trotz der Untermenschentheorie Hitlers
Dreimal hat Owens nach dem Krieg Berlin besucht und immer wieder erzählt, er habe im Sommer 1936 die glücklichsten Tage seines Lebens erlebt. Das liegt, natürlich, vor allem an seinen sportlichen Erfolgen, an den Goldmedaillen über 100 Meter, 200 Meter, im Weitsprung und in der 4x100-Meter-Staffel. Aber da ist noch mehr. Der Respekt, den ihm die Deutschen entgegengebracht haben, ausgerechnet die Deutschen, die sich so bedingungslos dem braunen Diktator unterwerfen. Aber Hitlers Untermenschentheorie ist ihnen in den 16 olympischen Tagen egal, jedenfalls in diesem einen Fall. Die Berliner sind fasziniert von Owens, von der scheinbaren Leichtigkeit seiner Bewegungen, von seiner Eleganz und Dominanz. Es gibt ein Foto, da strecken sich gesetzte Herren im Sonntagsstaat über den Graben des Olympiastadions, sie reichen Block und Feder Richtung Owens, und der unterschreibt bereitwillig. Auf einem anderen Bild sitzt er oben auf einem Bus, der belagert ist von Autogrammjägern, die sich nicht weiter für die anderen Sportler auf dem Dach interessieren, sondern nur für ihn.
Die Amerikaner sind mit dem Dampfer „Manhattan“ von New York nach Bremerhaven gefahren. Fotos zeigen Jesse Owens beim Weitsprungtraining an Deck und bei Sprintübungen mit seinen Teamkollegen. Für den schnellsten Mann der Welt ist es eine Reise in eine andere Welt. In Hamburg und später im Olympischen Dorf darf er im selben Gebäude wohnen wie seine weißen Teamkameraden. In New York sind die Hotels der Innenstadt für Schwarze gesperrt.
Und Jesse Owens ist fasziniert von Berlin
Owens ist schwer begeistert von der Kulisse des sauberen und glitzernden und perfekt organisierten Berlin. Das Olympische Dorf ein paar Kilometer westlich von der Stadt an der Reichsstraße 5 ist für ihn „der Himmel auf Erden“. Was er so alles zwischen den Wettkampftagen anstellt, lässt sich im Rückblick schwer konstruieren. Bekannt ist, dass die Wehrmacht reichlich Busse bereitgestellt hat für Fahrten zwischen dem Olympischen Dorf und der Berliner Innenstadt. Jesse Owens und sein Zimmernachbar Dave Albritton schätzen auch die Freuden jenseits der Askese.
Der Leichtathlet Owens ist ein bisschen schusselig, er hat seine Laufschuhe bei den Trials vergessen, den amerikanischen Vorausscheidungen in New York. Also durchstöbert sein Trainer Larry Snyder mehrere Tage lang die Berliner Sportgeschäfte, bis er einen adäquaten Ersatz gefunden hat. In den neuen Schuhen gewinnt Owens am zweiten Wettkampftag sein erstes Gold und brüskiert ein erstes Mal Hitler, der auf der Tribüne sitzt und sich angeblich weigert, Owens zu gratulieren. Diese Geschichte ist in den vergangenen 77 Jahren oft diskutiert worden, sie gilt mittlerweile als widerlegt, wie aber auch das gegenteilige Gerücht, Hitler habe Owens heimlich die Hand gegeben.
Am Tag des 100-Meter-Finales ist es kühl, leichter Regen fällt und Owens zieht sich eine Mittelohrentzündung zu. Der Berliner Arzt Alfred Koch kuriert ihn, gerade rechtzeitig vor dem Weitsprung, bei dem Owens sich mit dem Deutschen Luz Long anfreundet. Am Tag darauf siegt er über 200 Meter und vier weitere Tage später mit der Staffel.
Zwei Juden fliegen aus der Staffel-Mannschaft
Dieses letzte Gold trägt einen Makel, denn die Staffel wird im letzten Moment auf zwei Positionen geändert, auch zugunsten von Owens. Platz machen müssen Sam Stoller und Marty Glickman, es sind die beiden einzigen Juden der US-Mannschaft. Angeblich erfolgt die Änderung auf Wunsch von Joseph Goebbels. Und angeblich hat der amerikanische NOK-Chef Avery Brundage seine Finger im Spiel, ein Bauunternehmer, der mit den Nazis sympathisiert und später mit dem Neubau der deutschen Botschaft in Washington beauftragt wird. In der Mannschaftssitzung sagt Owens, er wolle nicht laufen, „ich habe schon drei Goldmedaillen gewonnen. Ich bin müde.“ Trainer Dean Cromwell herrscht ihn an: „Du machst, was dir gesagt wird!“
Es gibt da noch diese Geschichte mit dem Brief, er ist adressiert an „Jesse Owens, Berlin, Olympic Village“ und fordert ihn auf, bei der Siegerehrung gegen das Nazi-Regime zu protestieren, eine Erklärung samt deutscher Übersetzung wird gleich mitgeliefert. Die Geheime Preußische Staatspolizei fängt das anonyme Schreiben ab.
Wie steht Jesse Owens zu den Nazis? Er hat sich spät dazu entschlossen, an den Spielen von Berlin teilzunehmen. Noch im November 1935 hat er das in einem Radio-Interview so formuliert: „Wenn es in Deutschland eine Diskriminierung von Minderheiten gibt, sollten wir unsere Teilnahme an den Olympischen Spielen zurückziehen.“
Das passt im Ton nicht ganz zu dem, was Owens lange nach dem Krieg über Hitler gesagt hat: „Als ich am Kanzler vorbeikam, stand er auf, winkte mir zu und ich winkte zurück. Ich denke, die Journalisten zeigten schlechten Geschmack, als sie den Mann der Stunde in Deutschland kritisierten.“ Und: „Hitler hat mich nicht brüskiert, sondern Franklin D. Roosevelt. Der Präsident hat mir nicht einmal ein Telegramm geschickt.“
Deutschland inszeniert sich als friedlichen Gastgeber
Als Jesse Owens Berlin im Sommer 1936 verlässt, ist er 22 Jahre alt. Er träumt von großen Gagen in der Heimat, von Respekt und Anerkennung, und selbstverständlich will er wieder dabei sein in vier Jahren. Für 1940 sind die Olympischen Spiele nach Tokio vergeben. Es kommt anders, nicht nur wegen des Krieges, an den in diesen Tagen niemand denkt, nachdem Deutschland sich als so friedlicher Gastgeber der Jugend der Welt inszeniert hat.
Olympia verstößt Owens noch in Berlin. Er hat seine Schuldigkeit getan, jetzt kann er gehen. Die Amerikaner verabschieden ihren erfolgreichsten Athleten wie einen Hühnerdieb. NOK-Chef Avery Brundage entzieht ihm auf einer Pressekonferenz am Schlusstag der Spiele den damals lebensnotwendigen Amateurstatus. Owens hat sich geweigert, zu ein paar Sportfesten nach Skandinavien zu reisen, wo der Verband seine Kasse aufbessern will – selbstverständlich ohne die Sportler an den Einnahmen zu beteiligen. „Die sacken das ganze Geld ein, und wir können uns nicht mal ein Souvenir von dieser Reise leisten“, sagt Owens.
Daheim in New York gibt es für Jesse Owens einen Empfang im luxuriösen Hotel Waldorf Astoria. Als der Olympiasieger die Lobby betritt, weist ihn der Portier an, doch den Lift für die Dienstboten zu nehmen. Der offizielle Aufzug ist reserviert – für die weißen Hotelgäste.
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