Bob Hanning über Handball in der Corona-Krise: „Ohne unser Nachwuchs-Engagement hätten wir die Krise nicht überlebt“
Füchse-Manager Bob Hanning über den Überlebenskampf des Berliner Bundesligisten, Geisterspiele bei Hertha und den bevorstehenden Re-Start.
Herr Hanning, was war die schönste Nachricht in den letzten sechs Monaten?
Die schönste Nachricht!? Um Gottes Willen, da muss ich jetzt wirklich mal überlegen. (Überlegt) Also das wirklich schönste war in den zurückliegenden Monaten eigentlich der Zusammenhalt, und zwar von allen Teilen. Im März saßen wir hier und besprachen mit einem Insolvenzverwalter die Möglichkeiten. Ob wir das finanzielle Risiko eingehen – oder ob wir in die Dritte Liga runtergehen und neu anfangen.
Die Nachricht, Sie hätten mit einem Insolvenzverwalter gesprochen, sorgte vor ein paar Wochen für Aufsehen.
Viele haben gesagt, wie kannst du denn sagen, dass du mit einem Insolvenzverwalter gesprochen hast. Da habe ich nur gesagt: weil ich es getan habe! Ich möchte einfach, dass wir gemeinsam alles dafür tun, dass wir am Ende womöglich besser dastehen als wir je dagestanden haben. Dafür arbeiten wir rund um die Uhr.
Sie haben sich gegen einen Neuaufbau entschieden.
Trotzdem war das für alle Beteiligten ein sehr realistisches Szenario. Mitarbeiter, mit denen ich seit 16 Jahren vertrauensvoll zusammenarbeite, haben gesagt, dass sie diesen Weg noch einmal mitgehen würden.
Ein großer Vertrauensvorschuss.
Der Zusammenhalt war wirklich phänomenal. Und wenn ich etwas in dem halben Jahr in allen Facetten gelernt habe, dann: Krise macht ehrlich! Zu sehen, wer dann noch an unserer Seite steht und mit wem wir das gemeinsam bewältigen können. Das möchte ich jetzt – im Nachhinein – gar nicht mehr missen.
Erklären Sie das genauer.
Wissen Sie, für viele Menschen gibt es nur sich selbst. Dann gibt es Menschen, die können mit Krise gar nicht umgehen, die verstecken sich. Dann gibt es Denunzianten, die habe ich jetzt auch kennen gelernt. Und dann gibt es Menschen, die wenig haben – und die dieses Wenige noch zu dir bringen. Die schreiben dir dann: Wir leben hier von einer kleinen Rente, aber wir finden das mit eurer Jugendarbeit so schön – wir spenden hundert Euro.
Sie sind …
Entschuldigen Sie kurz! Und dann kam ja eigentlich die schönste Nachricht überhaupt: Simon Ernst sagt, er spielt weiter! Und im ersten Moment freust du dich wie ein kleines Kind, dass er kommt und dir das sagt. Und im nächsten Moment denkst du, warte mal, der kostet uns ja auch noch mal Geld (lacht).
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Sie sind gelernter Kaufmann. Wie lange brauchten Sie, um die ganze Situation mit etlichen Unbekannten ungefähr einschätzen zu können?
Ich bin gelernter Kaufmann, das stimmt. Mein Vater war selbst Vorstandsvorsitzender eines großen Konzerns, war also auch Kaufmann. In der zurückliegenden Situation ist mir aber auch die Seite meiner anderen Eltern zugutegekommen, die meines Stiefvaters und meiner Mutter – die sind nämlich Neurologen und Psychologen. Ich brauchte einen klaren Kopf für die Zahlen, aber ich habe auch einen klaren Kopf gebraucht für die Menschen.
Erzählen Sie.
Das Einfühlungsvermögen war in vielen Gesprächen sehr wichtig. Der zweifache Familienvater, der 2000 Euro netto verdient, dem konnte ich ja nicht sagen, pass auf, ich nehme dir jetzt 500 Euro weg. Genau diese 500 Euro bedeuten für den Mann ja die Lebensqualität: seinen Kindern ein Eis kaufen, einen Pullover, mit den Kindern was Schönes zu erleben. Dafür haben wir ja auch die Verantwortung. Wir haben es nach Rücksprache mit den Gesellschaftern nie an Augenmaß fehlen lassen.
Wie liefen die Gespräche mit den Sponsoren ab?
Unsere Außenstände beliefen sich zu einem Zeitpunkt auf einen siebenstelligen Betrag. Ich habe da jeden Partner, der eine Rechnung von mehr als 500 Euro offen hatte, persönlich angerufen und nach deren Befinden gefragt. Ich habe mit wirklich jedem Einzelnen gesprochen und ihnen auch unsere Situation erklärt.
Wie waren die Reaktionen?
Überwiegend sehr gut, sonst könnten wir dieses Interview so nicht führen. Es gab natürlich auch Firmen, die einfach nicht zahlen konnten.
Für viele Unternehmen stand die Rettung eines Profiklubs sicherlich nicht an erster Stelle.
Ich möchte Ihnen da mal etwas sagen: Wir überleben das ganze Thema wegen unserer Jugendarbeit! Das hat sich ganz klar so gezeigt. Es waren nicht die Profis, für die sich unsere Partner im Wesentlichen interessiert haben – es ist tatsächlich die maximale Identifikation mit unserem Nachwuchs. Ohne unser 16-jähriges Engagement im Nachwuchsbereich, hätten wir das jetzt vermutlich nicht überlebt.
Worum ging es Ihnen persönlich?
Die größere Motivation, all das am Leben zu erhalten, war für mich auch eindeutig der Nachwuchs. Das haben wir hier über die Jahre aufgebaut und das wollten wir nicht so einfach loslassen.
Wie groß – ob bei Profis oder im Nachwuchs – waren die existenziellen Ängste in der Hochzeit der Krise?
Es gibt da ganz unterschiedliche Ängste. Die Profis haben sich alle dazu bereiterklärt, auch 20 Prozent ihres Gehaltes zu verzichten und natürlich stellt sich bei den Spielern, deren Verträge auslaufen, auch die existenzielle Frage, wie geht es weiter mit mir? Auch hier sind Familien und Kinder betroffen. Den Jugendnationalspielern mussten wir auch Wege und Lösungen aufzeigen. Auch hier war sehr viel Fingerspitzengefühl gefragt.
Herr Hanning, Anfang Oktober startet in der Handball-Bundesliga die neue Saison. Für die Füchse geht es im ersten Heimspiel gegen Magdeburg – in der Vergangenheit ein Publikumsschlager. Mit wie vielen Zuschauern rechnen Sie heute?
Meine Wunschvorstellung wäre ein Start mit 2000 Zuschauern. Vielleicht kann man sich in Hunderterschritten dann ja irgendwann mal den 3000 nähern.
Ist ein Hygienekonzept bereits abgenommen?
Zusammen mit den Eisbären, Alba und den Volleys lassen wir gerade für beide großen Hallen in Berlin ein Hygienekonzept entwickeln. Wir möchten dabei die größtmögliche Sicherheit für unsere Zuschauer. Gesundheit und Sicherheit steht über allem. Ich übe da auch keinen Druck aus von wegen mehr, mehr, mehr. Ganz im Gegenteil, von mir aus über weniger Zuschauer irgendwann wieder mehr. Mitte September werden wir uns dann mit dem Senat zusammensetzen und gemeinsam Lösungen erörtern.
Was glauben Sie, wollen die Zuschauer in halbleere Hallen?
Ich denke, das Interesse an Live-Sport ist nach wie vor ungebrochen. Eine andere Tendenz kann ich im Moment nicht feststellen. Wir haben ja auch unter den Corona-Bedingungen weiterhin Dauerkarten verkauft. Als Risikopatient sollte man es sich jetzt natürlich ganz genau überlegen. Meinen Vater mit seinen 86 Jahren möchte ich jedenfalls gerade nicht in der Halle haben.
Haben Sie selbst den Live-Sport bis zuletzt verfolgt?
Ich war bei Hertha gegen Leverkusen, einer von acht Menschen, die reindurften. Ich war eingeladen, um mal eine Idee davon zu bekommen, wie das abläuft, welcher Standard da gesetzt wird, es hat mir imponiert.
Wie hat Ihnen das vom sportlichen Erlebnis her gefallen?
Man ist viel weniger abgelenkt und – das hört sich jetzt blöd an – für einen Sportinteressierten ist es fast spannender, das Spiel so zu gucken. Von der Emotion her ist das aber natürlich tragisch. Die Fans gehören ins Stadion und in die Halle. Für die machen wir das ja.
Würden Sie sich selbst als Fan bezeichnen?
Ja natürlich, ganz klar. Ich lebe auch für all diese Gefühle. Das kann man sich ja nicht kaufen. Glück gibt es nicht im Supermarkt. Trauer und frustriert sein auch nicht. Das macht ja etwas mit dir, das ist etwas sehr Besonderes. Und das erlebst du nur im Sport.
Sie als Organisator dieser Glücksgefühle, aber auch als Konsument dieser Emotionen: Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Stimmung in der Halle nie wieder so wird wie vor der Coronakrise?
Das Schlimmste ist natürlich, vor gar keinen Zuschauern zu spielen, das ist wirklich etwas anderes. Aber wenn du dieses Gefühl der Heimat, der eigenen Leute hast, dann ist es, glaube ich, jetzt erstmal gar nicht so wichtig, ob 200 oder 3000 Menschen in der Halle sind. Dann ist einfach das Gefühl da, dass du für jemanden spielst.
Auch in Berlin sind es manchmal die Fans gewesen, die ein Spiel entschieden haben.
Ganz klar. Man gewinnt ja nicht von ungefähr im Normalfall mehr Heimspiele als Auswärtsspiele. Wenn der Dampf von den Zuschauern dazukommt, dann kann die Schmeling-Halle ein echter Kessel werden, dann gewinnen wir hier eben auch mal gegen Kiel.
Könnte das in der neuen Saison zu einem Faktor werden, wenn der Heimvorteil vielleicht keiner mehr ist?
Nach Flensburg zu fahren ist jetzt sicherlich für alle einfacher. Aber da hat ja jede Mannschaft die gleichen Vor- und Nachteile. Ich glaube nicht, dass das auf die gesamte Saison eine entscheidende Rolle spielen wird – es sei denn, es käme zu unterschiedlichen Rahmenbedingungen: wenn in Flensburg 8000 Zuschauer in die Halle dürfen und bei uns nur 1000. Das wäre dann ganz klar ein sportlicher und auch wirtschaftlicher Nachteil.
Herr Hanning, wird sich durch die Coronakrise an den Machtverhältnissen im deutschen Handball etwas ändern?
Ein Klub wie Melsungen hat weiter aufgestockt und wird wohl auf Dauer einer der Profiteure der Krise sein. Kiel ist wahrscheinlich kein Profiteur der Krise, ihnen wird das Geld aus den Zuschauereinnahmen sehr fehlen. Vielleicht spielt dann auch ein Sagosen (Kiels Superstar, Anm. d. R.) irgendwann mal in Melsungen. Es wird also zu einer Verschiebung in der Liga kommen können.
Welcher Platz bleibt da den Füchsen?
Wir haben Stefan Kretzschmar (neuer Sportvorstand, Anm. d. R.) in den Verein geholt, um die letzten 20 Prozent zu den Spitzenklubs zu schließen, um oben anzugreifen. Und bis jetzt habe ich das Gefühl, dass ich irgendwann mal sagen kann, dass Stefan die großartigste und beste Verpflichtung war, die wir bei den Füchsen gemacht habe.
Wie viel Prozent sind es jetzt noch?
Nach wie vor 20. Aber wir sind auf einem guten Weg, und ich habe das Gefühl, dass wir alle gemeinsam die Grundlage für weitere tolle Handballjahre in Berlin gelegt haben.