Die verlorene Saison des früheren Herthaners: Nico Schulz will raus aus dem Keller
Im Sommer ist Nico Schulz nach 15 Jahren bei Hertha BSC zu Borussia Mönchengladbach gewechselt – kurz darauf riss ihm das Kreuzband. Nun kämpft er um die Rückkehr auf den Platz.
Nico Schulz lehnt sich gegen die Turnmatte an der Wand und muss erst einmal kräftig gähnen. Er hat gerade ein paar Stabilisationsübungen mit einer Hantel absolviert, aber an der körperlichen Belastung liegt der Anflug von Müdigkeit nicht. Schulz hat einfach schlecht geschlafen. Natürlich ist so ein Reha-Programm anstrengend. Vor allem für den Kopf.
Der Kraftraum der Mönchengladbacher Fußballprofis im Borussia-Park, ein Stockwerk unter der Erde, vollverblendete Fenster. Aus den Boxen tönt mehrheitsfähige Technomusik zum Rhythmus des Laufbands: Turnschuhe auf Gummi, tap, tap, tap. Raffael liegt auf dem Boden und lässt sich vom Physiotherapeuten die Beine verbiegen, Josip Drmic humpelt auf Krücken herein. Die Mannschaft hat frei, aber die Arbeitszeiten von Nico Schulz richten sich schon lange nicht mehr nach dem Bundesligaspielplan. Er arbeitet jetzt wie ein normaler Angestellter, Montag bis Freitag, nine to five. Plus regelmäßiger Überstunden am Samstag.
Mitte Oktober hat sich Schulz in einem Testspiel gegen den MSV Duisburg das linke Knie verdreht. Anfangs ahnte er nichts Böses. Warum auch? Das Knie war nicht geschwollen, auch Schmerzen hatte er so gut wie keine. Erst ein MRT zwei Tage später brachte die Gewissheit. Kreuzbandriss. Heißt: mindestens ein halbes Jahr Pause, Saison gelaufen. Dieser Moment sei in all der Zeit der schlimmste überhaupt gewesen, sagt der 23-Jährige – auch weil er nicht im Geringsten auf diese Diagnose vorbereitet war.
Es war die falsche Verletzung zum falschen Zeitpunkt. Der gebürtige Berliner war erst Ende August, kurz vor Transferschluss, für drei Millionen Euro von Hertha BSC nach Mönchengladbach gewechselt. Die Vorbereitung hatte er verpasst, in der Mannschaft lief es nicht, und Trainer Lucien Favre erklärte nach sechs Pflichtspielniederlagen hintereinander seinen Rücktritt. Erst in den letzten beiden Spielen unter Favre war Schulz zweimal eingewechselt worden, unter dessen Nachfolger André Schubert hoffte er nun richtig durchstarten zu können. „Bei dem Spiel gegen Duisburg wollte Nico uns allen zeigen, dass er mehr ist als ein Ersatzspieler“, sagt Borussias Sportdirektor Max Eberl.
Inzwischen ist er nicht mal mehr Ersatzspieler. Schulz tritt für ein paar Minuten in den Stepper, neben ihm strampelt Torhüter Yann Sommer auf dem Ergometer. Der Kraftraum grenzt an die Kabine der Profis. „Dadurch war ich nie ganz weg“, sagt Schulz. Im Herbst und Winter hätte die Personalstärke der Rehagruppe gereicht, um einen eigenen Betriebsrat zu gründen; inzwischen aber ist es einsam geworden um Schulz. Vor zehn Tagen hat Tony Jantschke (Kreuzbandanriss) sein Comeback gegeben, kurz zuvor Patrick Herrmann (Kreuzbandriss) und André Hahn (Bruch des Schienbeinkopfes). Und Schulz? „Langsam ist ein Ende in Sicht“, sagt er. Im Mai will er wenigstens teilweise wieder am Teamtraining teilnehmen. Endlich raus aus dem Keller.
Schulz hat sich damit abgefunden, dass er in dieser Saison nicht mehr zum Einsatz kommt und auch die Olympischen Spiele verpasst. „Ich habe keinen Zeitdruck“, sagt er. „Wir gehen auf Nummer sicher.“ Sein Ziel ist es, fit und beschwerdefrei in die Vorbereitung zur neuen Saison zu gehen. „Er ist quasi unser erster Neuzugang“, sagt Sportdirektor Eberl über den Linksfuß, der sowohl in der Viererkette als auch in der Offensive spielen kann. „Da freuen wir uns drauf, weil Nico unglaublich viel mitbringt, was unserem Spiel guttut.“
Nach so langer Zeit bei Hertha wollte er mal raus aus Berlin
Unter seinem linken Knie klebt ein blaues Kinesiotape. „Was macht die Patellarsehne?“, fragt Athletiktrainer Alexander Mouhcine, nachdem Schulz ein paar Dehn- und Streckübungen gemacht hat. Alles gut. Manchmal schmerzt die Sehne noch, von der ein Stück entnommen wurde, mit dem das gerissene Kreuzband zusammengeflickt wurde.
In seiner Zeit bei Hertha ist Schulz mal ein halbes Jahr wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers ausgefallen. Als er wieder gesund war, ging er auf den Platz und hat mit dem Lauftraining angefangen. Nach der Operation am Knie konnte er sechs Wochen gar nichts machen. Die Schwellung musste erst abklingen, Schulz wieder richtig gehen lernen, die Muskulatur aufbauen, ein Gefühl für das Knie bekommen. Je länger die Reha dauerte, desto kleiner die Fortschritte. „Es ist nicht leicht, das im Kopf zu verarbeiten“, sagt er.
Nico Schulz hat in dieser Saison mehr Minuten für Hertha BSC auf dem Platz gestanden als für Borussia Mönchengladbach. Er ist einer von fünf Spielern aus dem eigenen Nachwuchs, die für die Berliner zum Einsatz gekommen sind. Drei haben den Klub inzwischen verlassen: neben Schulz auch Yanni Regäsel und Änis Ben-Hatira. Allein John Anthony Brooks hat es zum Stammspieler gebracht. Nico Schulz, dessen Talent schon früh aufgefallen ist, sollte das eigentlich auch längst sein. Mit sieben kam er zu Hertha, mit siebzehn debütierte er in der Zweiten Liga für die Profis. Doch als Manager Preetz ihn im Sommer vor die Wahl stellte – Vertrag verlängern oder den Verein verlassen – entschied sich Schulz nach 15 Jahren Hertha für einen Wechsel. Als unangemessenen Druck hat er das damals nicht empfunden. „Das ist okay“, sagt er. „Muss ich verstehen, kann ich verstehen.“
Schulz will seinen Wechsel nicht als Entscheidung gegen Hertha verstanden wissen. Er hatte das Gefühl, etwas Neues ausprobieren zu müssen, mal „aus Berlin raus“ zu kommen. Seit August ist Schulz nur anderthalb Tage in seiner Heimatstadt gewesen. Fliegen war mit der Verletzung nicht allzu angenehm, außerdem „wollte ich hier erst einmal ein bisschen ankommen“. Als er im Sommer ging, galt Hertha vielen als Abstiegskandidat und Gladbach als stabiler Europapokalanwärter. Jetzt liegt Hertha als Dritter zwei Plätze oder vier Punkte vor Borussia. Dumm gelaufen? „Ich finde gut, was da passiert“, sagt Schulz über Herthas Aufschwung. „Das ist auch komplett verdient.“