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Abgang als Weltmeister: Nico Rosberg
© dpa/EPA/Srdjab Suki

Mentalcoach über Rücktritt der F1-Weltmeisters: "Nico Rosberg traut sich, was wir insgeheim wünschen"

"Hut ab": Mentalcoach Steffen Kirchner im Interview über den Rücktritt des Formel-1-Weltmeisters Nico Rosberg als Symbol für den Ausstieg aus der Leistungsgesellschaft.

Herr Kirchner, Nico Rosberg ist nach dem Gewinn der Formel-1-Weltmeisterschaft zurückgetreten. Ist er feige oder mutig?

Ich sage: Hut ab. Viele Sportler sollten sich an ihm ein Beispiel nehmen.

Warum?
Die meisten Profisportler sind getriebene Leute. Sie richten sich nach der Anerkennung und den Erwartungen der anderen. Viele machen immer weiter, mit dem Fokus nach außen, und finden sich selbst und ihre eigenen Werte dabei nicht. Traurige Beispiele sind Lothar Matthäus und früher phasenweise Boris Becker.

Der dreimalige Formel-1-Champion und heutige Mercedes-Funktionär Niki Lauda findet aber, dass Rosberg sich vor der Verantwortung eines Weltmeisters drückt, seinen Titel zu verteidigen. Die „richtig Guten“ seien die mehrfachen Weltmeister.
Die ganz großen Sportler gewinnen viele Titel. Es gibt aber keine Verpflichtung, seinen Titel zu verteidigen. Laudas Aussage ist die eines Getriebenen. In seiner Welt ist das richtig. Aber er muss irgendwann verstehen, dass nicht jeder so denkt.

Auch andere Sportchampions wie Usain Bolt und Rosbergs Kollege Lewis Hamilton können die Entscheidung nicht verstehen.
Bolt und Hamilton brauchen die Öffentlichkeit. Sie wollen geliebt werden, Epochen prägen, Rekorde brechen. Das tut man weniger für sich, sondern, um anderen etwas zu beweisen. Das ist ein super Karrieretreiber. Aber es gibt kein Genug, du wirst nie zufrieden sein. Michael Schumacher war auch ein Getriebener. Aber er hat wie so viele den Absprung verpasst und quasi sein eigenes Denkmal abgebaut.

Rosberg tickt da anders?
Rosberg war offensichtlich sehr intrinsisch motiviert. Er ist sehr feinfühlig, anders als Lauda. Der Preis, den er zuletzt für die Formel 1 gezahlt hat, war für ihn an der Obergrenze. Der Titelgewinn war sein persönliches Ziel, das er nun erreicht hat. Jetzt hat er keine Ziele mehr. Das verstehen diejenigen nicht, die von äußeren Faktoren motiviert werden, und sind dann auch pikiert. Wie eben Lauda.

Rosberg wirkte nach der Ankündigung seines Rücktritts vor allem erleichtert.
Für ihn war es ein massiver Befreiungsschlag. Ich glaube, er hat sich unheimlich unfrei gefühlt. Er hat die Nase voll von der Art, wie diese Branche funktioniert. Ein Lauda und auch Teams oder Vereine müssen akzeptieren, dass sie zwar Verträge über die Arbeitsleistung eines Menschen abschließen können, aber damit kein Recht auf sein Leben bekommen.

Lauda wirft Rosberg dennoch vor, das Mercedes-Team im Stich gelassen zu haben.
Was wäre die Alternative? Seine Motivation ist nicht mehr bei 100 Prozent, soll er sich bei Tempo 330 ins Rennauto setzen und nur 80 Prozent geben? Als Tennisspieler ginge das vielleicht, aber bei ihm geht es in jeder Kurve ums Leben. Aus Mercedes-Sicht macht es keinen Sinn, die verlassene Ehefrau zu spielen und ihm Vorwürfe zu machen. Mit einem solchen Fahrer wären sie nicht glücklich geworden.

"Die ganze Familie ist einem hohen Druck ausgesetzt"

Rosberg hat auffällig oft von seinem Vater Keke gesprochen, der 1982 Weltmeister wurde. Hat er eine Art familiäre Verpflichtung gespürt, es ihm gleichtun zu müssen?
Das spielt bestimmt auch eine Rolle. Der Mann hat seinen Sohn viele Jahre ideell und finanziell unterstützt, vielleicht war er bei dem Projekt auch ambitionierter als Nico selbst. Das ist auch eine Form von Zwang, da ist die ganze Familie einem hohen Druck ausgesetzt. Irgendwann muss dieses Projekt abgeschlossen werden.

Das ist mit dem Titelgewinn gelungen.
Ja, er hat seinen Auftrag erfüllt und die Bürde abgelegt. Der Titel war seine große Möglichkeit für den Escape – seine Chance, ein eigenes Leben aufzubauen.

In dieser Hinsicht hat Rosberg nun Matthäus und Becker hinter sich gelassen?
Als Sportler war das Karriereende natürlich kein Fortschritt, aber als Mensch und Persönlichkeit war es ein riesiger Schritt.

Reagiert die Bevölkerung deshalb so überwiegend positiv auf seinen Schritt?
Ja. Rosberg begehrt nämlich auf gegen ein gesellschaftliches Phänomen: gegen unsere extreme Leistungsgesellschaft. Wir kommen alle immer stärker in diese Maschinerie, es wird immer schneller und gnadenloser. Die Anzahl der Burnout-Erkrankungen hat sich seit 2003 verdoppelt, wir fühlen uns fremdbestimmt und können nicht nach eigenen Wünschen und Regeln leben. Da ist Nico Rosberg plötzlich ein kleines Vorbild. Weil er sich das traut, was wir uns insgeheim wünschen.

Ein Formel-1-Pilot als Symbol gegen die skrupellose Verwertungslogik der Globalisierung?
So ist es. Im Profisport gelten sehr viele harte Mechanismen, die immer extremer werden, weil das Geld eine immer größere Rolle spielt. Rosberg wollte sich dem nicht mehr aussetzen.

Rosberg ist erst 31 Jahre alt. Wie wird er nun weitermachen?
Lebensglück entsteht durch Kontrasterlebnisse. Er wird erstmal gar nichts tun und ohne Zwänge in den Tag hinein leben.

Er will einen Urlaub ohne festen Rückflugtermin antreten.
Das ist der Klassiker, das kommt häufig vor. Wenn dieser Kontrast nicht gesucht wird, führt das irgendwann in den Burnout. Das ist ein schleichender Prozess, wenn Menschen zu sehr nach den Regeln der Umwelt leben und eigene Werte vernachlässigen. Dann empfindet man kaum noch Freude, selbst bei Erfolgen nicht.

Rosberg sprach von „ekelhaften“ und „fürchterlichen“ Gefühlen, die er während des letzten Rennens im Cockpit hatte.
Solche Aussagen sind schon grenzwertig. Psychologisch gesehen war sein Rücktritt deshalb richtig. Er hat die Kontrolle über sein Leben wieder. Die Zeit der Zielorientierung ist irgendwann vorbei, für manche früher, für manche später. Er wird sich jetzt nur noch um Werte kümmern.

Steffen Kirchner, ist sportpsychologischer Berater und Personality-Coach. Er hat mehr als 500 Unternehmen, Profisportler und Teams betreut, darunter die Turn-Nationalmannschaft.
Steffen Kirchner, ist sportpsychologischer Berater und Personality-Coach. Er hat mehr als 500 Unternehmen, Profisportler und Teams betreut, darunter die Turn-Nationalmannschaft.
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Wie eine Familie mit vielen Kindern, nach der er sich sehnt?
Familiensinn und Zusammengehörigkeitsgefühl sind Kontrastwerte zu seinem bisherigen Leben. In der Formel 1 gibt es nur knallharte Einzelkämpfer. In seinem Team herrschte mehr Krieg als Frieden, dazu hatte er in Hamilton noch den härtesten Widersacher von allen. Das setzte ihm wahrscheinlich mehr zu als anderen.

Aber ganz ohne Ziele wird auch Rosberg nicht auskommen.
Er ist reich, jung, gesund, hat Familie. Besser geht es nicht. Wir wissen aber aus der Glücksforschung: Das einzige, was Menschen glücklich macht, ist Probleme lösen. Eine Zielsetzung ist nur eine künstliche Problementwicklung. Deswegen wird er sich irgendwann ein neues Ziel suchen müssen. Die nächsten 70 Jahre relaxen ohne Rückflugticket, das wird nicht reichen. Aber das wird er allein entscheiden, er wird mit kleinen Zielen anfangen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir ihn in drei Jahren in der DTM sehen werden wie damals seinen Vater.

Steffen Kirchner, 35, ist sportpsychologischer Berater und Personality-Coach. Er hat mehr als 500 Unternehmen, Profisportler und Teams betreut, darunter die Turn-Nationalmannschaft.

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