London 2012: Nationalgefühl in Flaschen
Der Medaillenrausch um das Team GB vereint auf wundersame Weise das sonst so zerrissene Königreich.
Gerry hat die große Union-Jack-Fahne aus dem Schrank geholt, die schon beim Jubiläum der Queen aus dem Schlafzimmerfenster hing. Es ist nicht die einzige Fahne in der Straße, aber die größte. „22 Goldmedaillen und wir zählen immer noch. Ich klebe jetzt am Fernseher“, sagt der 75 Jahre alte Rentner strahlend. Auch seine Enkeltochter ist vom Olympiafieber gepackt. „Sie hat das ganze Gesicht mit einem Union Jack bemalt, als sie beim Marathonlauf der Frauen war“, erzählt Gerry stolz.
Die größte Freude machte ihm aber Kirani James’ Goldmedaille im 400-Meter- Lauf. Das erste olympische Gold für sein Heimatland Grenada. Gerry gehört zu der ersten Generation von Einwanderern aus der Karibik. Als am Abend bei der Siegerehrung die Nationalhymne von Grenada gespielt wurde, drehte Gerry den Fernseher so laut, dass es durch die dünnen Wände dröhnte. Alle Nachbarn freuten sich mit ihm.
„Jede Nation wird bei den Londoner Spielen ihre eigene Heimunterstützung haben“, versprach die Londoner Olympiabewerbung und so ist es gekommen. Das zeigt der Jubel im Stadion, die Freude der Menschen auf den Straßen und sogar der Besuch beim Zahnarzt: Die Sekretärin jubelt für Rumänien, die Praxishilfe mit dem Speichelabsauger schwärmt von einem polnischen Gewichtheber und der Zahnarzt kommt aus Südafrika. Fast die Hälfte der Londoner stammt aus einem anderen Land und feuert jemanden aus der Heimat an. Aber alle stehen hinter „Team GB“.
Olympiafieber in London
Was für eine bunte Sache Identität sein kann. Jessica Ennis ist das Aushängeschild der Spiele und sie ist die Tochter eines Jamaikaners und einer Engländerin. Bei ihrem ersten Lauf trug der Jubel des Landes sie fast über die Hürden. Bei den Dressurreitern wurde Deutschland von einer britischen Mannschaft geschlagen, in der das ehemalige Stallmädchen Charlotte Dujardin neben der in Deutschland geborenen Millionärstochter Laura Bechtolsheimer auf dem Siegertreppchen stand. Der Goldmedaillengewinner im Bahnradfahren, Philip Hindes, wurde als Sohn eines britischen Soldaten in Krefeld geboren und wechselte erst in diesem Jahr ins britische Team.
Aber keiner verkörpert die Weltläufigkeit von Team GB so gut wie 10 000-Meter-Sieger Mo Farah, der als Neunjähriger aus Somalia kam. Als jemand ihn fragte, ob er nicht lieber für Somalia angetreten wäre, sagte er: „Mann, dies ist mein Land. Wenn ich das britische Trikot überziehe, bin ich stolz, sehr stolz.“ Was wiederum keinen Geringeren als den Schotten Andy Murray zu neuen Taten anspornte: „Mo gab mir die Motivation, eine Goldmedaille zu gewinnen. Ich wollte auch Teil von Team GB sein“, so der Tennis-Goldmedaillengewinner.
Jeder will dazugehören, egal woher er kommt und welche Hautfarbe er hat. Ein mitreißendes Gefühl gemeinsamer Loyalität hat die Nation gepackt. Die Symbole sind Olympiagold und der Union Jack, den sich alle um die Schultern hüllen, eine Flagge, in der die Fahnen von vier Nationen – Nordiren, Schotten, Walisern und Engländern – vereint sind. Sogar schottische Nationalisten setzen sich über das Parteiverbot hinweg und nehmen das verbotene Wort „Team GB“ in den Mund.
Gemeinsame Loyalität, die individuelle Herkunftsgeschichten in sich aufnimmt und weiterträgt. Die Briten feiern das Idealbild von sich selbst, das Danny Boyle mit seinem Eröffnungsspektakel vorführte, mit seiner Mischung aus Rap und Elgar, Queen und Gewerkschaftsprotesten, in roten Uniformen marschierenden Chelsea- Pensionären und Einwanderern aus der Karibik. „Dies ist für alle“, war das Motto der Eröffnungsfeier. Die Olympianation zelebriert es nun mit Medaillen. Man müsste das Hochgefühl nur noch in Flaschen füllen, damit man es aus dem Keller holen kann wie einen guten Wein, wenn es nach Olympia wieder gebraucht wird.