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Guido Buchwald ließ Diego Maradona im Finale 1990 nie aus den Augen.
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1990er-Weltmeister Guido Buchwald: „Mit dem Spitznamen ‚Diego‘ kann ich sehr gut leben“

Vor 30 Jahren wurde Deutschland in Rom Fußball-Weltmeister. Guido Buchwald über den Zusammenhalt im Team, Gegenspieler Maradona und den Urlaub danach.

Guido Buchwald, 59, hat 76 Länderspiele absolviert. Er wurde 1990 Weltmeister und 1992 Vize-Europameister sowie 1984 und 1992 Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart. Von 1994 an spielte der gebürtige Berliner drei Jahre bei den Urawa Red Diamonds in Japan.

Herr Buchwald, wann wurden Sie zuletzt „Diego“ genannt?
Erst vor wenigen Tagen.

Von wem?
Ich wohne etwa 20 Autominuten vom Stuttgarter Flughafen entfernt. Ich bin im Wald mit meinen Hunden spazieren gegangen. Da kamen mehrere VfB-Fans auf Fahrrädern vorbei, alle in Trikots, die haben sofort „Diego“ gerufen. 

Freuen Sie sich darüber?
Anfangs war mir der Vergleich zu hoch gegriffen. Ich war ein Fußball-Arbeiter, Diego Maradona ein Künstler. Aber inzwischen sehe ich das als totale Auszeichnung, es ist mein Erkennungsmerkmal geworden. Ich kann sehr gut damit leben. 

„Unser Diego“ hat Finalkommentator Gerd Rubenbauer 1990 im Spiel gegen Argentinien gesagt. Sie hatten den Spitznamen aber bereits früher.
Der kam im Trainingslager vor der WM zustande. Durch Klaus Augenthaler, nachdem ich ihm einmal den Ball durch die Beine geschoben hatte.

Der 1:0-Sieg im Endspiel jährt sich an diesem Mittwoch zum 30. Mal. Was bedeutet Ihnen der Jahrestag?
Genauso viel wie zum Beispiel der 25., da hatten wir uns getroffen. Diesmal wollten wir wieder etwas machen. Wegen Corona sind die Planungen auf Eis gelegt worden. Vielleicht feiern wir dann das 31-Jährige.

Hätten Sie Lust drauf?
Klar. Man wird nicht jeden Tag Weltmeister. Das verbindet. Wir hatten ein super Team. Damit meine ich nicht nur die Spieler. Wir hatten vom Start der Vorbereitung an tolle und nachher sehr erfolgreiche Wochen.

1990 hatte schon in der Vorbereitung alles gepasst?
Ja, im Team hat es gestimmt und Italien war das Fußball-Land überhaupt. Viele von uns haben bei italienischen Vereinen gespielt. Das war fast eine Heim-WM. Und die deutschen Fans haben unser Vorbereitungsquartier in Kaltern mit Wohnmobilen quasi belagert. Die Stimmung war bei allen absolut positiv.

Teamchef Franz Beckenbauer hat den Spielern viele Freiheiten gelassen.
Er hat gewusst, wie fokussiert wir auf die WM waren. Nach Spielen oder besonders intensiven Belastungen hat er gesagt, wir sollen die Köpfe freikriegen. Das war gut so.

Die Playstation existierte noch nicht. Wie haben Sie sich die Zeit im Mannschaftsquartier vertrieben?
Videospiele gab es schon, aber nicht in der Ausprägung wie heute. Ich habe viel gelesen und Tischtennis gespielt.

Wer war der beste Tischtennisspieler im Team?
Das ist schwer zu sagen. Aber ich war zu der Zeit ziemlich gut, habe deutlich mehr Spiele gewonnen als verloren.

Die Mannschaft hat in Erba gewohnt, nicht weit vom Comer See. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Wir hatten eine Wohlfühlatmosphäre, alles war perfekt organisiert. Es war kein typisches Hotel, eher ein kleines Schloss, ein bisschen verschachtelt, einfach schön.

Wie würden Sie die Hierarchie im Team beschreiben?
Lothar Matthäus war unser Kapitän. Aber alle Nationalspieler waren und sind in ihren Vereinen Führungsspieler. Das waren immer Gespräche auf Augenhöhe. Dass man mit manchen mehr zu tun hat, ist klar. Bei mir war das Jürgen Klinsmann.

Mit ihm hatten sie bei den Stuttgarter Kickers und beim VfB zusammengespielt.
Wir haben uns aber auch immer gefreut, wenn andere Spieler dazukamen. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der es von jemandem hieß: „Wir wollen unter uns sein.“ Wir waren wirklich eine Mannschaft.

Wann haben Sie gemerkt, dass etwas Großes möglich ist?
Mein persönlicher Moment kam sehr früh. Zum Auftakt gegen Jugoslawien hatte ich mit Dejan Savicevic einen der Stars als Gegenspieler. Ich hatte ihn total im Griff, habe gemerkt, dass ich in einer Topverfassung bin. Außerdem rennt Lothar über das halbe Feld und macht ein Riesentor, wir gewinnen 4:1. Da wusste ich: Das wird eine gute WM für mich und für uns.

So kam es. Einmal aber war Franz Beckenbauer überhaupt nicht zufrieden. Im Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei stand es 1:0, der Gegner spielte in Unterzahl.
Da war Franz zu Recht sauer. Wir waren ihm zu nachlässig.  Manchmal ist es ein schmaler Grat zwischen großem Selbstvertrauen und Überheblichkeit. Bei einem Fehler hätte die ganze WM für uns auf dem Spiel gestanden. Er wollte uns wachrütteln.

War der Ärger danach schnell vergessen?
Ich war mal wieder zur Dopingkontrolle ausgelost worden. Als ich in die Kabine kam, herrschte noch Alarmstimmung. Ich glaube, Andi Brehme hat irgendwann gesagt: „Übrigens Trainer, wir haben gewonnen.“ Ab da ging es ruhiger zu.  

Gab es Momente, in denen Sie daran gezweifelt haben, dass es mit dem Titel klappt?
Wir wussten, dass wir sehr stark sind. Auch mental. Da war beispielsweise das Elfmeterschießen gegen England im Halbfinale. Keiner hat sich weggeduckt, jeder hätte geschossen.

Wann wären Sie an der Reihe gewesen?
Als Sechster oder Siebter.

Es mussten aber nicht einmal die ersten fünf deutschen Spieler alle schießen, weil England zweimal nicht traf. Dann kam das Finale, mit Ihnen als Gegenspieler von Maradona.
Franz hat im Vorfeld nur gesagt, dass ich gegen ihn spiele. Er hat volles Vertrauen zu mir gehabt. Ich habe in der Nacht vorher einige Male durchgespielt, wie ich ihn knacke. Ich wusste, wenn er mit Tempo kommt, ist er nicht zu halten. Dann macht er intuitiv sensationelle Sachen. Ich habe es   geschafft, dass er den Ball meist mit dem Rücken zu mir annehmen musste und verhindert, dass er in die Mitte ziehen konnte. 

Haben Sie irgendwann registriert, dass er aufgibt?
Er wirkte immer müder, immer verzweifelter. 

Nur einmal waren Sie zu langsam – als es nach dem Abpfiff um Maradonas Trikot ging.
Das hat sich Frank Mill gesichert. Heute hängt es wie meins auch im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund. Ich hatte das Trikot meines Stuttgarter Teamkollegen Jose Basualdo bekommen. Das habe ich noch bei mir zu Hause. 

Guido Buchwald hat sich kaum verändert in den vergangenen 30 Jahren, nur die Haare sind etwas kürzer geworden.
Guido Buchwald hat sich kaum verändert in den vergangenen 30 Jahren, nur die Haare sind etwas kürzer geworden.
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Sie sind als Abwehrspieler Guido Buchwald zur WM gefahren. Zurückgekommen sind Sie als Weltmeister „Diego“ Buchwald. Was war anders?
Die Zeit danach war heftig. Heftig schön wohlgemerkt. Ich wurde überall erkannt. Die Leute wollten mit mir sprechen, gratulieren, ein Autogramm haben. Einen großen Unterschied habe ich bei Auswärtsspielen in der Bundesliga bemerkt: Die Fans sind mir mit sehr viel Respekt begegnet. Es kamen kaum noch Pfiffe, obwohl ich vom Gegner war. 

Wo haben Sie eigentlich Ihren Sommerurlaub nach der WM verbracht?
In Italien.

Das passte ja gut.
Auf Sardinien, in einem schönen, ruhigen Hotel. Auch da haben mich die Leute erkannt, aber es war auch alles in einem netten Rahmen. 

Sie haben bei der WM keine Minute verpasst. Teamchef Beckenbauer hat Ihnen attestiert, sieben Mal Weltklasse gespielt zu haben. Die Fußball-Welt muss Ihnen offen gestanden haben. 
Parma wollte mich für sieben Millionen Mark holen. Der VfB hat gesagt, unter zehn Millionen können wir unseren einzigen Weltmeister nicht gehen lassen.  Im Nachhinein bin ich dankbar dafür. So bin ich 1992 Deutscher Meister geworden und nach Japan wäre ich sonst wahrscheinlich auch nie gegangen. Bis heute habe ich viele Freunde aus dieser Zeit.

Herr Buchwald, wenn man Sie nachts wecken und nach der ersten Erinnerung an die WM 1990 fragen würde, was würden Sie antworten?
Dass man mich bitte schlafen lassen soll (lacht). Nein, da fallen mir zwei Dinge ein. Der Moment, als Lothar den Weltpokal überreicht bekommen hat und das Achtelfinale gegen die Niederlande: die Spuckattacke gegen Rudi Völler, das Spiel mit zehn gegen zehn, meine Vorlage zum 1:0 von Jürgen Klinsmann.

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