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Hand aufs Herz. Mario Götze fühlt sich in der Nationalmannschaft deutlich wohler als beim FC Bayern.
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Deutsche Fußball-Nationalmannschaft: Mario Götze: Der Mann vom vierten Stern

Mario Götze hat im WM-Finale 2014 ein Tor für die Ewigkeit erzielt, trotzdem kämpft er als Hochbegabter immer noch um Anerkennung.

Wenn die Füße ihren Teil erledigt haben, sind im Fußball die Hände dran. Sie fliegen nach einem Tor jubelnd nach oben, sie zeigen auf jemanden, sie gestikulieren. Die rechte Hand von Mario Götze wanderte am Freitagabend nach zwei erzielten Treffern zur Brust. Dorthin, wo sein Herz schlägt, wo der Bundesadler auf dem Nationaltrikot sitzt und vier Sterne stehen, von denen der vierte sehr viel mit ihm zu tun hat. Dazu schloss er die Augen. Eine große Geste. Aber vielleicht war es im Frankfurter Stadion tatsächlich der glücklichste Moment für Götze in der Nationalelf seit dem Sommer des vergangenen Jahres. Jenem Sommer, der immer mit ihm in Verbindung gebracht werden wird.

Zwei Tore in einem wichtigen Spiel, beim 3:1 gegen Polen, das die Mannschaft so nah an die EM in Frankreich heranrückt. Dazu als einziger in allen elf Länderspielen seit der WM auf dem Platz gewesen. Das ist doch was. Zum Phänomen Mario Götze gehört jedoch, dass so etwas auch von ihm erwartet wird seit dem Weltturnier in Brasilien. Genauer seit der 113. Spielminute im Finale, in der er gegen Argentinien das eine Tor erzielte, das Deutschland den lang ersehnten WM-Triumph schenkte. Für Götze war das Tor noch ein bisschen mehr. Es wird ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen. Es ist ein Tor für die Ewigkeit.

Doch in jenem Moment war es um seine Unbekümmertheit geschehen.

Während seiner Sommerferien in Kalifornien hat Götze zwei amerikanischen Reportern ein Interview gegeben. Irgendwann fragte einer der beiden Götze, wer denn nun das größte, aufregendste Ding im deutschen Sport sei. „Nowitzki oder Michael Schumacher oder Vettel“, hat Götze geantwortet. Dann unterbrach ihn der andere Reporter. Er riss die Augen auf, schaute seinen Kollegen leicht entsetzt an und sagte zu Götze: „Hey man, du hast Deutschland zum WM-Titel geschossen, du bist so jung und hast deine ganze Karriere vor dir. Du bist das große deutsche Ding!“

Rahn, Müller, Brehme - alle sind sie abgestürzt

Mario Götze wusste in diesem Moment nicht, was er sagen sollte. Womöglich weiß Mario Götze bis heute nicht so recht, wie er damit umgehen soll.

Vorlagen dafür gibt es einige, Vorbilder aber keine. Mit seinem Finaltor schoss sich Mario Götze in den Olymp des deutschen Fußballs. 54, 74, 90 und 2014 - Zahlen der großen deutschen Triumphe. Die Namen, die dahinter stehen: Helmut Rahn, Gerd Müller, Andreas Brehme und er. Ihre Finaltore haben die Deutschen glücklich gemacht, die Schützen sind es nicht geworden. Nicht Rahn, nicht Müller und auch Brehme nicht. Alkohol, Abstürze, Pfändungen, sonstige Notlagen. Es sind Geschichten von gefallenen Helden. Und Götze?

Seine prominenten Vorgänger waren zum Teil schon deutlich älter, als sie zur Unsterblichkeit trafen. Müller war 28, Brehme sogar 29. Als Götze im Maracana von Rio zuschlug, war er gerade 22 geworden. Alles liegt noch vor ihm. Aber wohin mit so viel Zukunft in der Gegenwart?

Mario Götze hat zwar ein Tor für die Ewigkeit erzielt, aber irgendwie kämpft er immer noch um Anerkennung. Ein Jahr danach sitzt er aufrecht und gelöst vor den Mikrofonen der Reporter. Das deutsche Team hat sich gerade für ein paar Tage versammelt, um EM-Qualifikationsspiele gegen Polen und Schottland zu bestreiten. Die Mannschaft ist, trunken vom Triumph, etwas ins Straucheln geraten. „Es liegt ein mühsames Jahr hinter uns“, sagt Bundestrainer Joachim Löw. Viele hätten zu tun gehabt, den Erfolg „emotional einzuordnen“.

Dafür war Mario Götze ganz gut aus dem WM-Sommer gekommen. Er spielte für den FC Bayern oft und stark. Die Zahlen stimmten. Tore, Torvorlagen, solche Sachen. Andere aus dem WM-Team hatten da ganz andere Probleme gehabt. Götze sackte erst mit Verzögerung etwas ab. In der Rückrunde der Bundesliga, als die Zahlen nicht mehr so stimmten. Er spielte seltener und weniger gut. Ein bisschen schien es, als laufe er bei den Bayern ins Abseits.

Plötzlich wurden Wechselabsichten laut und alte Bilder bemüht. Wie etwa das aus dem Trainingslager vor der WM in Südtirol, wo Götze einmal vor den gut 150 Journalisten erschien und gelümmeltes Desinteresse absonderte. Es schien ins Bild zu passen vom leicht blasierten Wunderknaben aus gutem Hause, der sich für etwas Besseres halte. Und überhaupt: Wie konnte er nur seinen alten Verein Borussia Dortmund entgegen aller Äußerungen verlassen und zu den Bayern gehen?

Götze wünscht sich einen unaufgeregten Umgang mit sich

Den Bayern war Götze im Sommer 2013 fast 40 Millionen Euro wert. Natürlich wurde dieser Wechsel gerade in den sozialen Netzwerken entsprechend begleitet. Fußball ist auch immer ein sehr emotionales Geschäft. Und es ist ein schmaler Grat, bis aus Zuneigung Ablehnung wird. Schwer zu ignorieren in einer gehypten und medial überladenen Branche wie dem Fußball, wo schon ein gerissener Schnürsenkel im Training zur Breaking News wird.

Fortan stand Mario Götze ganz neu unter Beobachtung. Gewogen und bewertet wurde sein Tun in der Öffentlichkeit schon zu Dortmunder Zeiten. Dafür war seine Begabung zu gewaltig. Aber mit dem Wechsel bekam die Sache einen anderen Dreh. Ein falsches Abspiel, ein falsches Sponsor-Hemd, ein falsches Wort - Götze musste sich vielleicht zwangsläufig falsch dargestellt fühlen. Er reagierte darauf mit Rückzug, was ihm bestenfalls noch als Unnahbarkeit ausgelegt wurde.

Mario Götze wünscht sich einen unaufgeregten Umgang mit sich. Mit seiner Gabe, mit seiner Prominenz, als öffentliche Figur. Es ist wohl auch eine Suche nach Halt, Vertrauen und Verständnis, nach Empathie. Hochbegabte brauchen Zuspruch, vielleicht gerade sie. Begabung kann Lust sein, aber auch Last. Nicht alle halten alles aus. Sebastian Deisler etwa, um die Jahrtausendwende als Heilsbringer des deutschen Fußballs ausgerufen und von Erwartungen und Zuneigungen gleichermaßen erdrückt, versank erst in Depressionen, ehe er sich dem Fußball und dem öffentlichen Leben ganz entzog – mit nur 27.

Mario Götze ist weit stabiler gestrickt, sein Umfeld ist konstant. Sein Vater, ein Professor für Datentechnik, begleitet seinen Weg ebenso sorgsam wie sein Bruder, der bei ihm in München wohnt. Seit ein paar Jahren gilt nun Götze als Jahrhundert-Talent. Bundesligadebüt mit 17, ein Jahr später Debüt in der Nationalelf - der zweitjüngste Deutsche seit dem Krieg nach Seeler. Mit 18 die erste Meisterschaft, mit 19 gleich noch mal. Beide Male mit Dortmund. Es folgen zwei weitere mit den Bayern und der WM-Pokal.

„Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi.“ Mit diesen Worten hat Löw Götze ins WM-Finale geschickt. „In der Wahrnehmung und Orientierung auf engem Raum setzt Mario Maßstäbe. Dank dieser Gabe kann er schnelle Entscheidungen treffen. Er findet immer spielerische Lösungen.“ Sagt Löw heute.

Das mit dem Spielerisch ist so eine Sache gewesen. Es schien, als habe Götze zwischenzeitlich seinen Faden, seine Leichtigkeit verloren. Wo bleibt der Spaß am Spiel? Vielleicht nehme er Fußball heute mehr als Arbeit wahr, sagte Götze in diesem Frühjahr dem Fußball-Magazin 11Freunde: „Aber ich trage die Freude am Fußball in mir, ich bin also auch dafür verantwortlich, sie mir zu erhalten.“

Wäre es für Götze besser, den FC Bayern zu verlassen?

In diesem Sommer schrieb die „Bild“ von der „Götzedämmerung“. Und fragte, ob es für ihn nicht besser sei, die Bayern zu verlassen? Trainer Pep Guardiola wollte ihn schließlich nie haben, sondern lieber den Brasilianer Neymar. Tatsächlich hätte Götze jetzt nach England oder Italien wechseln können, Angebote gab es. Götze aber blieb. Er habe sich ganz bewusst dafür entschieden. Für ihn habe es nie wirklich zur Debatte gestanden, den Verein zu wechseln. „Ich freue mich jetzt, zu meinem Spiel zurückzufinden.“

Wie jetzt gegen Polen. Beim 3:1-Sieg blitzt mehrmals seine Begabung auf. Götze läuft und spielt wie aufgezogen. Er erzielt zwei Tore, trifft einmal den Pfosten und rettet einmal auf der eigenen Torlinie für den bereits geschlagenen Torwart Manuel Neuer. „Wenn ich der Mannschaft helfen kann, ist es umso schöner“, sagt Götze hinterher. Vor allem aber hat er sich mal wieder getraut, so zu spielen, wie es sein Talent verspricht. Denn dann kann er das Schwere so leicht aussehen lassen.

Wie in jener 113. Minute von Rio, als sein Talent zuschlug. „Er kann seinen Gegenspieler mit dem ersten Kontakt ausspielen und mit dem nächsten Kontakt kommt er schon zum Abschluss“, sagt Hansi Flick. Flick war bis zur WM Löws Assistent und fahndet heute als Sportdirektor beim DFB nach den Götzes von morgen. Flick sagt, dass das Götze-Tor nur gefeiert werde, „weil es uns den Titel gebracht hat“. Aber man müsse sich mal anschauen, was das für ein Tor gewesen ist. „Das ist ein sensationelles Tor, das hätte kein anderer machen können. In zehn Jahren wird man vielleicht sagen: Boah, was für ein geiles Tor.“

Vielleicht erwartet auch Mario Götze manches Mal zu viel von sich, immer das Besondere, Wunderdinge. „Ich weiß, dass ich meine Stärken nie verlieren werde“, sagt er. Das Tor von Rio habe er für sich eingeordnet in den Lauf seines immer noch jungen Lebens. Er weiß wohl auch, dass nicht viele so denken. Bei den meisten wird sein Spiel weiterhin unter Genialitätsverdacht stehen. „Es ist blöd, dass alles so schnell läuft“, sagt Götze, aber so sei nun mal das Geschäft.

Mario Götze hört ein wenig seinen Sätzen nach. Seine Augen sind wach, er sitzt aufrecht und zugewandt. Dann sagt er noch: „Wer weiß, ob man noch einmal so etwas erleben kann. Vielleicht wird man das nie wieder erleben. Das wäre schade.“

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