Alba Berlins schwedischer Dreierspezialist: Marcus Eriksson und die Kunst des Werfens
Albas Schwede gehört zu den besten Werfern Europas und hält bei Alba einen unglaublichen Vereinsrekord. Den schlechten Saisonstart konnte er aber nicht verhindern.
Das unfassbare Spektakel fand im Stillen statt. An einem Novembertag des vergangenen Jahres machten sich Marcus Eriksson und Alba Berlins Individualcoach Carlos Frade an eine simple Übung. Dabei wirft der Spieler von fünf verschiedenen Positionen rund um die Dreipunktelinie, die 6,75 Meter vom Korb entfernt ist; wenn er einmal nicht trifft, rückt er eine Position weiter. Und Eriksson traf. Der Trainer konnte anschließend die Zahlenreihe 9/49/38/97/61 = 254 notieren.
254 von 259 Dreiern hintereinander, eine Quote von 98 Prozent. Nur zum Vergleich: Den Vereinsrekord hielt bislang der Weitwurfspezialist Spencer Butterfield mit 95 Treffern. Man würde es nicht glauben, hätte nicht eine Kamera in Albas Trainingshalle alles aufgezeichnet. Das Video ist auf YouTube zu sehen, im extremen Zeitraffer wirkt die Abfolge von Würfen wie Slapstick.
In Wahrheit brauchte es dafür sehr lange 18 Minuten und 50 Sekunden. Das ist im Basketball fast die Dauer von zwei Vierteln reiner Spielzeit, alle 4,3 Sekunden ein Wurf, der den Ball durch die Luft und in den Korb fliegen lässt, vom Trainer aufgefangen und zurückgepasst wird. Eine knappe Halbzeit lang werfen und werfen und werfen und dabei die Konzentration nicht verlieren. Traumwandlerisch.
Trainer Carlos Frade sagt: „So etwas habe ich noch nie gesehen, nicht annähernd.“
Marcus Eriksson sagt: „Es gibt so Tage, da spürst du es in den Fingern.“
Albas Sportdirektor Himar Ojeda sagt: „Ich sitze bei den Spielen hinter der Bande, und wenn Marcus einmal nicht trifft, was ja bei jedem normal ist, dann bin ich enttäuscht. Weil ich das bei ihm nicht erwarte. So sehr vertraut man seinem Wurf.“
Und der TV-Experte Alex Vogel sagt: „Eriksson ist einer der besten Shooter Europas.“
Wie wird einer so nervenstark, so zielsicher? Freunde des Übersinnlichen würden sagen, es liege am Geburtstag, 5. Dezember, Sternzeichen: Schütze. Der eher nüchterne 26-jährige Eriksson führt das auf seine Eltern zurück, beide spielten halbprofessionell für Uppsala in der höchsten schwedischen Liga. Das Baby wurde zu jedem Spiel und Training mitgeschleppt. Sein Onkel Bosse ist eine Legende als Dreipunktewerfer.
Dutzende Fotos und Videos zeigen den kleinen Marcus, wie er mit der Großmutter ein Bällchen wirft. Der hohe Babystuhl, in den er beim Essen gesetzt wurde, wurde zum Korb: Kaum konnte der Bub gehen, warf er seinen Ball dorthinein. Mit vier, fünf Jahren das erste, einfache Training mit dem Papa. Als Jugendlicher der Wechsel auf eine Schule mit neuem Basketballprojekt. Sein Jahrgang in Uppsala erwies sich als das beste Team aller nordischen Länder, und Eriksson hörte auf, auch Hockey, Eishockey, Fußball und Leichtathletik zu betreiben. Er war darin ebenfalls recht gut gewesen, konzentrierte sich nun aber auf Basketball.
Wenn man mit Marcus Eriksson spricht, sitzt da ein höflicher Mann, der lächelnd nachdenkt und nach Worten für sein überragendes Können sucht. Irgendwann fällt der Satz „Ich bin ein schüchterner Typ“. Er sei halt täglich mit Fahrrad und Ball durch seine Heimatstadt gestreift, „ich kenne da jeden Korb, wirklich jeden“. So nach und nach habe er ein gutes Gefühl für den Ball entwickelt.
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Trainer reden bei Spielern wie Eriksson von exzellenter Auge-Hand-Koordination. Von Akkuratesse, von Disziplin. Von einem gut justierten Arm, als seien von der Natur Kimme und Korn eingepflanzt. Und Trainer Frade sieht Erikssons Geheimnis in „der Schlichtheit seines Wurfs“; er nutze optimal die Energie aus den Beinen, kein Spieler verpulvere weniger Kraft als er. Der Schwede ist ein Monster an Effizienz.
Tatsächlich kann man sich unendlich viele Würfe von Marcus Eriksson anschauen und sieht doch einen einzigen. Als hätte er die für ihn optimale Bewegung als Schablone anfertigen lassen und müsse jeden weiteren Wurf nur noch kopieren.
Er hat Erfolg damit. Gleich in seiner ersten Saison bei Alba gewann die Mannschaft Pokal und Meisterschaft, das Double. Eriksson war mit 12,9 Punkten im Schnitt der beste Scorer des Teams. Seine Dreier fanden in der Liga zu 48,9 Prozent und in der Euroleague zu 46,6 Prozent ins Ziel. Beim Finalturnier in München, als im Juni dieses Jahres in der Quarantäneblase der Meistertitel geholt wurde, warf er nervenstark noch einmal präziser: 29 von 55, eine Quote von 52,9 Prozent.
Auch bei der klaren 72:93-Heimniederlage am Dienstag gegen das Spitzenteam von Anadolu Istanbul war Eriksson mit drei Dreiern und 13 Punkten Albas bester Werfer. Am Schweden liegt es nicht, dass die Berliner vor dem vierten Euroleague-Spiel dieser Saison am Freitag bei ZSKA Moskau (16 Uhr, live bei Magentasport) immer noch sieglos sind.
Ehe sie bei Alba zusammenfanden, hatten sich die Wege von Sportdirektor Ojeda, Individualtrainer Frade und Eriksson schon einmal gekreuzt. Die beiden Spanier waren in Diensten des ACB-Klubs Gran Canaria, und Frade wurde 2009 nach Portugal entsandt, um bei der Europameisterschaft U16 B talentierte Spieler zu beobachten. Die Notiz aus Frades Report über einen jungen Schweden kann Ojeda heute noch zitieren: „good shooter, very skinny.“ Und Frade erinnert sich an einen „dürren Besenstiel, bei dem man sofort den Unterschied beim Werfen sah. Er war besonders.“ Eriksson wurde damals mit 51,6 Prozent Dreiern zweitbester Punktesammler des Turniers.
Ein Muskelprotz ist er nie geworden. 85 Kilogramm bringt er bei 2,01 Metern auf die Waage und er weiß, dass einige Kilo extra beim Körperkontakt mit den Gegnern ganz hilfreich wären. Amüsiert erzählt er, wie er mal einen ganzen Sommer lang versuchte, zuzunehmen. Wochenlang hatte er sich viel Essen und Kraftraum verordnet und Gewicht zugelegt, doch kaum begannen das Training und die Rennerei, schwand alles dahin. Auch als Verbrennungsmotor scheint Erikssons Körper äußerst effektiv. Seitdem ist er ausreichend damit beschäftigt, sein Gewicht wenigstens zu halten. Nach einem Kreuzbandriss kümmert er sich konsequent um Mobilität und Kraft im Bereich der Knie, doch dort sitzen eben nicht jene Muskeln, mit denen man beim Lüften des Trikots das Publikum beeindruckt wie ein Ronaldo.
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Es ist ein Vormittag Ende September, als Trainer Carlos Frade und Marcus Eriksson wieder mal alleine in der Trainingshalle miteinander arbeiten. An sich dauert so eine Einheit fürs Werfen 15 bis 20 Minuten, doch der Spieler war wochenlang verletzt und bekommt eine längere Schicht. Frade sagt, mit einem Schützen fokussiere er sich beim Training normalerweise auf zwei Dinge: den Kopf und die Mechanik. An der ist jedoch bei Eriksson nichts zu verbessern, der Kopf also. Basketball ist ja kein statisches Spiel, bei dem der Werfer stillsteht und in Ruhe zielen kann. Schon gar nicht einer wie Eriksson, der bekannt ist für seine Fähigkeit als Shooter und den die Gegner keine Sekunde aus den Augen lassen.
Sie beginnen mit zwei Bällen, der Spieler dribbelt, Frade wirft ihm den zweiten Ball zu, dann muss Eriksson gleichzeitig den einen Ball zurückpassen, den anderen fangen und auf den Korb werfen. Per Handzeichen schickt ihn der Trainer nach links, nach rechts, mal darf er sofort werfen, es werden Freiwürfe eingestreut, jeden Moment bekommen die Augen ein neues, stummes Kommando. „Das Hirn schärfen“, nennt der Schwede das.
Einige betuchte Fußballklubs haben dafür einen „Footbonauten“ angeschafft, einen 20 x 20 Meter großen Hightech-Käfig mit Ballmaschinen und aufleuchtenden Zielfeldern; Mario Götze, so heißt es, sei mit seiner Handlungsschnelligkeit darin immer noch unerreicht.
Doch Basketball ist Handarbeit. Frade stellt eine Art Einkaufswagen mit Bällen drin an die Dreierlinie, Eriksson muss sich dribbelnd um das Hindernis schlängeln, Frade verfolgt ihn wie ein Verteidiger, signalisiert mit dem Daumen „Finte zur Seite und Wurf“. Die beiden unterhalten sich auf Spanisch, der Schwede hat bis zu seinem Berliner Engagement neun Jahre in Spaniens erster Liga gespielt.
Es geht hier um die Simulation von Spielsituationen mit möglichst vielen Varianten, Tempi und hoher Intensität. Nur keinen Rhythmus entstehen lassen. Frade baut Stresselemente ein, die Trefferquote sinkt, ein leises „Fuck“ entschlüpft dem Skandinavier, für seine Verhältnisse ein formidabler Gefühlsausbruch; auf dem Trikot machen sich Schweißflecken breit. Er soll beim Dribbeln nicht auf den Boden schauen, er soll beim Wurf kleine Finten einbauen, die den Gegner ins Leere springen und ihn damit frei stehen lassen, er soll seinen Verteidiger mit einer kurzen Pirouette abschütteln.
Das Ziel ist, über mehr Optionen zu verfügen, mit denen sich ein Spieler den nötigen Raum zum Dreier schafft. Wenn wie so oft die US-amerikanische Profiliga NBA der Trendsetter sein sollte, wird diese Kunstfertigkeit immer wichtiger. Der Journalist und studierte Geograf Kirk Goldsberry hat die Wurfpositionen über Jahrzehnte analysiert und in Grafiken übersetzt. Vor 20 Jahren weist die Dreierlinie noch große Lücken auf, die Punkte der Würfe verteilen sich weit über die Spielfläche. Inzwischen gibt es nur noch zwei dichte Ballungen: direkt am Korb und eine breite, durchgängige Kette um die Dreierlinie; Würfe aus der Halbdistanz sind passé.
Glänzende Aussichten also für Spieler wie Eriksson, die hochprozentig von außen treffen und als Variante zum Korb ziehen und abschließen können. Es ist vielleicht ein gutes Omen nicht nur für ihn, dass die Trainingshalle von Alba in Berlin-Mitte liegt, unweit des Checkpoint Charlie: in der Schützenstraße.