Borussia Dortmund vor dem Rückrundenstart: Lucien Favre ist der Meister der Details
Als Borussia Dortmund ihn engagierte, wurde der Verein belächelt. Jetzt könnte Lucien Favre die Langeweile in der Bundesliga beenden.
Heftiger Wind weht über Brackel. Dortmunder Osten, flaches Land, links ein Fußballplatz und rechts auch einer. In der Mitte steht Lucien Favre, er zieht die Kapuze fest und vergräbt die Hände tief in den Taschen seiner wattierten Jacke. Seit ein paar Tagen plagt ihn eine Erkältung, aber darum schert sich der Winter genauso wenig wie der Spielplan der Bundesliga.
Am Freitag startet die Rückrunde, am Samstag muss Favre mit Borussia Dortmund in Leipzig antreten, „schweres Spiel, wir werden leiden müssen.“ Ein paar Minuten noch will er seine Mannschaft über den Trainingsplatz scheuchen, da rutscht der Verteidiger Ömer Toprak aus und humpelt nach draußen. Favre verzieht das Gesicht und schimpft. Über Wind und Wetter und Regen, die das Fußballspielen im Winter zu einer allgegenwärtigen Gefahr für die Gesundheit machen, auch wenn der Rasen mit der Nagelschere getrimmt und von der Höhensonne beleuchtet wird.
Aber dann hebt Toprak auch schon die Hand, „alles okay, Trainer!“ Schon ist der kleine Zwischenfall vergessen und Lucien Favre widmet sich wieder seinem Kerngeschäft. Die Mannschaft fitzumachen, für den Samstag in Leipzig und darüber hinaus für einen Erfolg, den ihm niemand zugetraut hat.
Zum Start in die Rückrunde steht Borussia Dortmund auf Platz eins der Bundesliga-Tabelle, sechs Punkte vor dem FC Bayern München. Lucien Favre lässt ganz Dortmund vom Gewinn der Deutschen Meisterschaft träumen. Und auch all jene Fußballfans, denen die Bundesliga zu langweilig geworden ist, weil zwar 18 Mannschaften mitspielen, am Ende aber immer die Bayern gewinnen. Die letzte Meisterschaft, die nicht nach München ging, war die von 2012. Und wurde, welch schöne Erinnerung, in Dortmund gefeiert.
Ein Wechsel, der wie eine Verbannung wirkte
Der Ballspielverein Borussia 09 ist im vergangenen Sommer ein wenig belächelt worden für die Akquise des Fußballprofessors aus Saint-Barthélemy. Favre hatte seinen Ruf weg: Er galt als taktisches Genie, aber auch als wenig geeignet für den Alltagsstress in der Bundesliga. In Berlin hatte er eine mittelmäßig begabte Mannschaft auf Platz vier geführt, in Mönchengladbach einen Fast-Absteiger in die Champions League. Und doch gingen beide Engagements im Streit zu Ende. Nach seinem eigenmächtig vollzogenen Rückzug aus Mönchengladbach galt Favre in der Bundesliga als nicht mehr vermittelbar. Sein darauffolgender Wechsel in die Fußballprovinz Nizza wirkte wie eine Verbannung von der großen Bühne.
Jetzt ist er wieder da, das Haar etwas grauer, aber auch in Dortmund arbeitet Favre mit der ihm eigenen Besessenheit an allen Details und bimst den Spielern schon mal ein, dass sie beim Dribbling auf die Füße des Gegners zu achten haben. Kleinigkeiten, für die sich im Profifußball sonst niemand Zeit nimmt. Aber für den Perfektionisten Lucien Favre gibt es keine Kleinigkeiten, sondern Tausende von Details, die in ihrer Summe das große Ganze ausmachen. „Was den Fußball betrifft, hat er sich kaum verändert“, sagt der Dortmunder Mannschaftskapitän Marco Reus, die beiden kennen sich aus der gemeinsamen Zeit bei Borussia Mönchengladbach. „Für einen Spieler ist es immer gut, wenn er einen guten Plan hat. Lucien Favre hat für jedes Spiel einen neuen Plan, und immer ist er gut.“
Und doch hat der BVB auch einen neuen Lucien Favre kennengelernt. Einen, der tiefer in sich ruht, als das früher der Fall zu sein schien. Die Zeit in Nizza hat ihn Demut und Gelassenheit gelehrt. Der Trainingsplatz dort war eine bessere Bolzwiese, der Sponsor rückte kein Geld heraus, aber das Leben ging trotzdem weiter.
Favre ist jetzt 61 Jahre alt, zweifacher Großvater und weiß, dass es auf der Welt mehr gibt als Fußball. Erfolgsdruck? Na klar, den gebe es schon, in Dortmund und überall sonst im Fußball. „Druck haben Sie auch in der dritten Liga“, sagt Favre. „Ich mache mein Bestes, mehr geht nicht. Glauben Sie mir, ich bin komplett entspannt.“ Neulich hat er, früher undenkbar, einen ganzen Abend lang den Fußball Fußball sein gelassen und sich bei einem Konzert von Coldplay vergnügt.
Er schickt die Spieler in die Kabine: "Bitte ruhen Sie sich aus!"
Sehr schön nachzuempfinden war diese neue Gelassenheit vor ein paar Wochen beim Trainingslager in Marbella, als sich nacheinander Torhüter Roman Bürki, Abwehrchef Manuel Akanji, Mittelfeldorganisator Thomas Delaney und Stürmer Marco Reus in den Krankenstand verabschiedeten. Der Verlust einer kompletten Achse hätte Favre noch vor ein paar Jahren in tiefe Depression getrieben. In Marbella hat er nur sein 61 Jahre altes Bubenlächeln gelächelt. Und sich jeden Morgen darüber gefreut, „wie die Sonne über dem Mittelmeer aufgeht. Ist das nicht ein fantastischer Anblick?“
Im Trainingszentrum von Dortmund-Brackel versteckt sich die Sonne hinter einer dichten Wolkendecke. Nach zwei intensiven Stunden schickt Favre seine Spieler aus dem Sprühregen in die Kabine: „Bitte ruhen Sie sich aus! Regeneration ist genauso wichtig wie das Training!“
Favre hat seine Spieler noch nie geduzt, an dieser Tradition mag er auch in Zeiten neuer Gelassenheit nicht rühren. Nach dem Duschen zieht er sich erst zur Besprechung mit seinem Stab zurück und zu einer kurzen Mahlzeit im klubeigenen Restaurant, „ich muss ein bisschen zunehmen, die Erkältung hat mich drei Kilogramm gekostet.“ Dann klemmt er sich eine weiße Tafel mit bunten Magneten unter den Arm und ist bereit für eine längere Unterhaltung, über Fußball im Allgemeinen und Dortmund im Besonderen. „Was wollen Sie wissen?“
Zum Gespräch bittet Favre in einen Konferenzraum neben dem aufgeweichten Trainingsplatz. Er legt die weiße Tafel auf den Tisch, sie symbolisiert ein Fußballfeld, mit den bunten Magneten stellt er zwei Mannschaften zusammen. Favre erzählt von früher, von seinen Anfängen in der Bundesliga, 2007 in Berlin bei Hertha BSC. Aus fußballtaktischer Sicht sei die Bundesliga zu dieser Zeit eine ziemlich langweilige Veranstaltung gewesen.
„Alle Mannschaften spielten 4-4-2“, also ein System mit vier Verteidigern, vier Mittelfeldspielern und zwei Stürmern. Schnell gruppiert er die Magnete und dokumentiert, wie er damals den VfB Stuttgart ausgetrickst hat. „Schauen Sie, das war ganz einfach“, sagt Favre. Er zieht zwei Figuren zurück und eine nach vorn, „da haben wir jetzt einen freien Spieler in der Offensive, damit haben sie nicht gerechnet“, und natürlich hat Hertha das Spiel gewonnen.
Mit Geschichten wie vom Sieg gegen den VfB Stuttgart kann Favre ganze Abende füllen, wenn man ihm nicht irgendwann die Tafel wegnimmt. Fußball mag für den unbedarften Zuschauer im Stadion oder vor dem Fernseher ein einfaches Spiel sein, in dem es nur darum geht, das Runde ins Eckige zu bekommen. Für den Fußballlehrer Favre steht das Spiel im Rang einer Wissenschaft. Nichts geschieht aus Zufall, für jede Situation gibt es Lösungen, man muss sie nur intensiv und lange genug einstudieren. Das ist der Job eines Fußballlehrers.
Favre verbringt einen Großteil seiner Zeit nicht beim Kommandogeben auf dem Rasen, sondern beim Taktik-Studium vor dem Bildschirm. Gerade erst hat er sich zwei Spiele des ersten Rückrundengegners Leipzig angeschaut, Sequenz für Sequenz, manche doppelt und dreifach. Die Videoanalyse der beiden Leipziger Spiele hat ihn fünf Stunden gekostet und einen steifen Nacken, „ich muss aufpassen, sonst schimpft der Doktor mit mir.“ Der perfekte Plan, den Marco Reus und seine Kollegen so sehr schätzen, er hat seinen Preis.
Und doch mag Favre es nicht übertreiben. „Ein System ist nur dann gut, wenn auch die Spieler davon überzeugt sind“, sagt er. Und führt als Beispiel einen Kollegen aus der Bundesliga an, der es sich zur Philosophie gemacht hatte, in jedem Spiel zwei, drei Mal das System zu wechseln. „Die Spieler sind irgendwann durchgedreht.“
Der Perfektionist hat früh gelernt, sich zurückzunehmen
Lucien Favre ist keiner von denen, die der frühere Nationalspieler Mehmet Scholl abfällig „Laptop-Trainer“ nennt, weil sie nie selbst auf höherem Niveau gespielt haben und ihre Weisheiten nur aus der Theorie beziehen. Favre war ein Filigran im Mittelfeld und ist 24 Mal für die Schweizer Nationalmannschaft aufgelaufen. Als er seine Karriere 1991 wegen einer Knieverletzung beenden musste, „hätte ich am liebsten in einem kleinen Verein als Präsident, Trainer und Pressesprecher zugleich gearbeitet. Ich wollte einfach alles im Griff haben, aber das ging schon damals nicht.“ Der Perfektionist Lucien Favre hat früh gelernt, sich zurückzunehmen.
In Dortmund arbeitet er zum ersten Mal bei einem Klub, der seine Vorstellungen finanziell umsetzen kann. Der BVB hat für diese Saison 90 Millionen Euro in neues Personal investiert, in den Belgier Axel Witsel, den Dänen Thomas Delaney, den Spanier Pablo Alcacer oder den Marokkaner Achraf Hakimi. Solche Dimensionen sind neu für einen Trainer, der in Mönchengladbach mitanschauen musste, wie ihm die Konkurrenz die besten Spieler wegkaufte und der es auf seinen anderen Stationen gewohnt war, jeden Euro dreimal umzudrehen.
Favre gilt als wählerisch und schwer zu überzeugen. Dieter Hoeneß, früher der starke Mann bei Hertha BSC, hat mal über ihn gesagt: „Wenn Sie den allein in einen Supermarkt schicken, würde er verhungern, weil er sich nicht zwischen Wurst und Käse entscheiden kann.“
Viel Geld, wenig Fitness - er hat den Spieler kaum eingesetzt
Heute kann Favre darüber lachen. Und mag doch nicht auf den Hinweis verzichten, dass da sehr wohl ein Unterschied bestehe zwischen Mäkeligkeit und gewissenhafter Vorbereitung. „Warum gewinnen denn die spanischen Klubs seit Jahren sämtliche europäischen Wettbewerbe? Weil sie verdammt gute Transfers machen! Sie achten auf Technik und Athletik, auf Spielverständnis und taktische Intelligenz, einfach auf alles. Der sportliche Erfolg steht und fällt mit der Qualität deiner Transfers!“
Favre erzählt, wie er in Berlin mal unter Zeitdruck einen Spieler verpflichtet habe, ohne vorher dessen körperlichen Zustand genau zu überprüfen. „Wir konnten den Test erst machen, als der Vertrag schon unterschrieben war. Seine Fitnesswerte waren eine Katastrophe!“ Der Mann hat Hertha viel Geld gekostet und unter Favre kaum gespielt.
In Dortmund scheint alles perfekt zu passen, die vielen Millionen sind gut investiert. Hakimi ist der schnellste Außenverteidiger der Bundesliga, Delaney und Witsel organisieren das Mittelfeld, vorn landet jeder Ball im Tor, so er denn von Alcacer getreten wird. Sechs Punkte Vorsprung auf die Bayern kommen nicht von ungefähr.
Erinnerungen werden wach an die schönste Zeit der Klubgeschichte, sie liegt noch gar nicht so lange zurück. Das war nur ein paar Jahre, nachdem die Dortmunder so gut wie pleite waren, erdrückt von Schulden in zweistelliger Millionenhöhe. Aber dann hatten sie die schräge Idee, das Traineramt Jürgen Klopp anzudienen, dem schrillen Mann mit der hohen „Geil!“-Dichte im Vokabular. Klopp führte den BVB zu zwei Deutschen Meisterschaften, einem Pokalsieg und ins Finale der Champions League. Dass Klopp den Klub verlassen hat, ist bald vier Jahre her, in Dortmund genießt er immer noch Heldenstatus.
Wird das was mit der Meisterschaft?
Heute leitet er den FC Liverpool an, auch dies ein Verein mit ruhmreicher Vergangenheit und bescheidenen Erfolgen in der Gegenwart, die bestimmt wird vom Geld, mit dem die Konkurrenz aus Manchester und London um sich wirft. Als Klopp nach England kam, war sein neuer Klub kaum mehr als ein liebevoll betrachtetes Fossil. Jetzt thront er mit Liverpool auf Platz eins der Premier League, vier Punkte vor der neureichen, mit arabischen Petrodollars gepäppelten Konkurrenz von Manchester City. Eine schöne Koinzidenz zum Dortmunder Höhenflug. Zwei der wichtigsten Ligen Europas könnten im Frühling den romantischen Weg zurück in die Vergangenheit finden.
Wird das was mit der Meisterschaft? Kann der BVB die Bayern auch in der Rückrunde auf Distanz halten? Diese Frage bekommt Lucien Favre alle paar Tage gestellt und er beantwortet sie immer auf dieselbe Weise. Dass ihn dieses Fernduell so überhaupt nicht interessiere, „wichtig sind nicht die Bayern, wichtig sind wir.“ Dann schiebt er die weiße Tafel mit den bunten Figuren zur Seite. Zwei Stunden lang hat er über Fußball geredet und würde ja gern noch weitermachen, aber das nächste Training will vorbereitet und ein letztes Video angeschaut werden. Halt, eine Sache noch!
Favre holt sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, tippt auf ein paar Tasten und liest eine SMS vor, „von Löw, Jogi, ich lese Ihnen das mal kurz vor“. Die Nachricht des Bundestrainers betrifft die Einschätzung eines großen Turniers, sie beginnt so: „Lieber Lucien, ich gratuliere dir zu deiner Analyse!“ Und wieder lächelt Favre sein Buben-Lächeln.