Ein halbes Jahr nach der Rückkehr zu Hertha BSC: Kevin-Prince Boateng und seine letzte Etappe
Kevin-Prince Boateng ist im Sommer zu Hertha BSC und nach Berlin zurückgekehrt – dorthin, wo alles begonnen hat. Was hat er seiner Mannschaft bisher gegeben?
Am ersten Weihnachtstag hat Kevin-Prince Boateng auf seinem Instagram-Account ein Foto veröffentlicht, das ausreichend Potenzial besaß, seine Kritiker mal wieder richtig zu triggern. Das Foto war eher sinnlich als besinnlich, weil es Boateng und seine Freundin nicht nur in inniger Umarmung zeigte, sondern beide auch unbekleidet zu sehen waren.
Er ist eben ein Poser, dürften all jene gedacht haben, die dem Fußballer von Hertha BSC seit jeher mit Skepsis begegnen. Boateng hat es ihnen immer schon leicht gemacht. Zurückhaltung ist ihm weitgehend fremd, und wer seine Vorurteile bestätigt sehen will, muss nur mal beim Training seines aktuellen Vereins vorbeischauen.
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Anfang dieser Woche, das erste Training nach der kurzen Pause über Silvester. Als der offizielle Teil vorüber ist, versucht sich eine kleine Gruppe noch an Torschüssen. In solchen Momenten ist Boateng in seinem Element. Es ist laut und exzessiv, es wird gelacht und gescherzt. Einmal – als er den Ball an die Strafraumlinie zugespielt bekommt – dreht sich Boateng um 180 Grad und schießt mit der Hacke.
Seit dem Sommer ist Kevin-Prince Boateng zurück in seiner Heimatstadt, zurück bei dem Verein, von dem er 2007, mit gerade 20, aufgebrochen ist in die weite Welt. Ein bisschen früh, wie er inzwischen selbst erkannt hat. Aber er war jung, wild, ungeduldig. Hertha war die erste Etappe, jetzt ist Hertha die letzte Etappe einer langen, ereignisreichen Karriere, mit Stationen bei 13 Vereinen, verteilt über ganz Europa. Die Hälfte dieser Schlussetappe liegt jetzt schon wieder hinter ihm. Am Ende dieser Saison, mit dann 35 Jahren und einem geschundenen Körper, wird wohl tatsächlich Schluss sein.
Die Reaktionen auf seine Rückkehr nach Berlin sind zwiespältig ausgefallen. Allen nostalgischen Anwandlungen zum Trotz war da eben auch die Frage, was Boateng überhaupt noch zu leisten imstande sein würde. Der Mittelfeldspieler kam aus der zweiten italienischen Liga, war schon da nur noch sporadisch zum Einsatz gekommen, nicht zuletzt weil sein Körper inzwischen von den Strapazen des Profifußballs gezeichnet ist. Wie sollte er da erst auf dem ungleich höheren Niveau in der Bundesliga bestehen?
Elf Spiele, nur vier Mal in der Startelf
Das vergangene halbe Jahr hat die Skeptiker nicht zwingend widerlegt. Elf Spiele hat Boateng für Hertha in der Bundesliga bestritten. Nur viermal schaffte es Boateng in die Startelf, zuletzt vor mehr als drei Monaten, und nie hat er länger als 60 Minuten auf dem Platz gestanden. Bei drei Spielen blieb Boateng auf der Ersatzbank sitzen, drei Mal fehlte er verletzt. Ein Tor hat er weder erzielt noch vorbereitet.
Kann Kevin-Prince Boateng Hertha wirklich mehr geben als ein paar nostalgische Gefühle? „Es ist keine PR-Geschichte“, sagt Fredi Bobic, Herthas Sportgeschäftsführer. „Er kann noch richtig gut Fußball spielen. Der Verein braucht ihn als Persönlichkeit.“ Als Bobic bei Eintracht Frankfurt tätig war, hat er Boateng zum ersten Mal zurück nach Deutschland geholt. Auch da gab es viel Skepsis, aber letztlich wurde es eine Erfolgsgeschichte, die mit dem Gewinn des DFB-Pokals endete. Nur war Boateng da eben auch noch ein paar Jährchen jünger.
Pal Dardai hat in seiner Zeit als Trainer bei Hertha nie ein böses Wort über Boateng und seine eingeschränkte Leistungsfähigkeit verloren. Als er nach dem Auswärtsspiel in Leipzig gefragt wurde, warum Boateng nicht zum Einsatz gekommen sei, gab Dardai offen zu, dass es eine gemeinsame Entscheidung gewesen sei. Wenn es schnell und intensiv wird, ist Boateng schnell verloren. Das weiß er selbst.
„Ich bin nicht gekommen und sage, ich bin Prince Boateng, ich muss jedes Spiel spielen“, hat er vor der Saison erklärt. Wenn Hertha an diesem Sonntag zu Hause gegen den 1. FC Köln (15.30 Uhr, live bei Dazn) in die Rückrunde startet, wird Boateng wohl erneut auf der Ersatzbank Platz nehmen. Im fortgeschrittenen Alter ist er eher ein Spieler „für Phasen“, wie Bobic sagt.
Schon Dardai musste sich jede Woche aufs Neue entscheiden, ob Boateng der Mannschaft mehr hilft, wenn er von Anfang an spielt oder wenn er für die Schlussphase aufs Feld kommt, um ein Spiel in aller Ruhe zu Ende zu bringen. Daran hat auch der Trainerwechsel wenig geändert. „Für mich als Trainer wird es wichtig sein, dass ich die richtigen Momente für ihn finde“, sagt Dardais Nachfolger Tayfun Korkut. So wie bei seinem Debüt Anfang Dezember. Hertha lag 1:2 beim VfB Stuttgart zurück, knapp 20 Minuten waren noch zu spielen. „Wir hatten das Spiel unter Kontrolle, wir hatten Ballbesitz. Da hat man gesehen, dass er auf dem Platz die Verantwortung übernehmen und seine Leistung abrufen kann“, sagt Korkut.
Dass Boateng über besondere fußballerische Fähigkeiten verfügt, wird niemand bestreiten. Aber er hat eben auch einen Hang zum Exaltierten. Den Ball mit der Sohle hinter dem Standbein zu spielen, gern auch einen knappen halben Meter über dem Boden, das beherrscht er immer noch in Perfektion. Auch das Gefühl für das Spiel als solches ist weiterhin vorhanden. Aber wenn Hertha im Training intensive Läufe absolviert und die Spieler in Gruppen unterwegs sind, läuft Boateng meistens in seiner eigenen Gruppe, die nur aus ihm besteht. Nach wenigen Bahnen schon kommt er kaum noch hinterher. Manchmal sieht es so aus, als laufe er auf Eiern. Der Rücken zwickt regelmäßig. Oder das Knie. Oder beides.
Aber Boatengs Rückkehr war eben nicht ausschließlich sportlich begründet. Er sollte der Mannschaft mehr geben als wohltemperierte Pässe. „Wir brauchen ihn auch neben dem Platz“, sagt Bobic. „er tut der Mannschaft gut mit seiner Erfahrung, er ist extrem wichtig für uns.“
Boateng blickt geläutert auf sein junges wildes Ich zurück
Natürlich ist der Boateng, der 2021 zu Hertha zurückgekehrt ist, ein anderer, als der Boateng, der Hertha 2007 im Groll verlassen hat. Man kann das in der Dokumentation „Underground of Berlin“ sehen, in der es um Boateng und seine damalige Gang geht, um ihre Anfänge im Wedding. Da thront Boateng staatsmännisch in einem ledernen Fauteuil und blickt geläutert auf sein junges wildes Ich zurück.
Unter Korkut als Trainer hat sich einiges verändert. Zum Training geht die Mannschaft jetzt in geschlossener Formation von der Kabine auf den Platz. Boateng kommt Anfang dieser Woche als Letzter. Er redet noch kurz mit seinem früheren Jugendtrainer Dirk Kunert, gibt dem Ordner zur Begrüßung die Hand, anschließend auch sämtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Hertha, die sich am Trainingsplatz tummeln.
Natürlich hatte auch Korkut ein Bild von Boateng im Kopf, als er Ende November nach Berlin kam. Es war das Bild von einem erfolgreichen Fußballer mit großer Vergangenheit. Und jetzt? „Ich muss ehrlich sagen, dass ich einen sehr demütigen Menschen kennengelernt habe, der hier wirklich noch einmal alles geben will“, sagt Korkut. „Ich bin zuversichtlich, dass er uns auch in der Rückrunde noch in einigen Spielen helfen wird.“
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Einmal im Herbst hat Boateng seinen siebenjährigen Sohn mit zum Training gebracht. Er kümmert sich um ihn, als sich die Spieler in der Mitte versammeln, später passt sich Sportdirektor Arne Friedrich mit ihm ein paar Bälle zu. Als die Mannschaft ein Tor über den Platz trägt, steht nur Boateng etwas abseits und winkt mit seinen Armen wie ein Fluglotse, der ein Flugzeug in die Parkposition einweist.
Eine Fußballmannschaft ist ein hochsensibles soziales Gebilde, in dem jedes Zeichen von Schwäche penibel registriert wird. Wer Schwäche zeigt, wird weggebissen wie ein grauer alter Wolf. Demnach müsste Boatengs Führungsrolle in Herthas Mannschaft mindestens prekär sein. Er spielt eher unregelmäßig, muss sich immer wieder Pausen nehmen, weil der Körper zickt und zwickt. Für Fredi Bobic aber ist Boateng „jemand, der für die Kabine sehr, sehr wichtig ist“.
Es fehlt Hertha BSC an Führungsfiguren
Jurgen Ekkelenkamp, 21, ist im Sommer, kurz vor dem Ende der Transferperiode von Ajax Amsterdam zu Hertha BSC gekommen. Er gilt als überaus talentiert, hat auch bei seinem neuen Arbeitgeber schon besondere Momente erlebt, und doch ist der holländische U-21-Nationalspieler noch weit davon entfernt, eine tragende Rolle in Herthas Mannschaft zu übernehmen. Dem TV-Sender NOS aus seiner Heimat hat er im Herbst erzählt: „Bei Ajax hattest du Blind und Tadic, in Berlin hast du Kevin-Prince Boateng. Von solchen Jungs lernst du sehr viel als junger Spieler.“
Natürlich stellt Boateng immer noch etwas dar. Er hat in den großen Ligen Europas gespielt, für Klubs wie den AC Mailand, den FC Barcelona und Tottenham Hotspur. Aber dass er bei Hertha innerhalb des Teams immer noch als Wort- und Anführer wahrgenommen wird, das erzählt vor allem etwas über die Struktur innerhalb des Kaders. „Ich habe nicht besonders viele Führungsspieler in der Mannschaft“, sagt Fredi Bobic. Dedryck Boyata, der Kapitän, hat immer wieder mit sich und seinem verletzungsanfälligen Körper zu kämpfen, Leute wie Vladimir Darida und Peter Pekarik, die Erfahrensten im Team, sind vor allem ruhig und zurückhaltend.
Kevin-Prince Boateng ist bei Hertha BSC auch deshalb immer noch so stark, weil es niemanden gibt, der ihm die Führungsrolle wirklich streitig machen kann. Und will.