Volleyball bei Olympia: Kein Gold ist in Brasilien so wichtig
Nach Fußball ist Volleyball in Brasilien die beliebteste Sportart. Der Gastgeber will Gold und hat einen Star wie Neymar. Doch es läuft holprig.
Wenn die Nation in Gefahr ist, fängt sie an zu singen. Laut und schön, und textsicher. „Eu sou Brasileiro, com muito orgulho, com muito amor“, ein anrührendes Lied, das vor zwei Jahren bei der Fußball-Weltmeisterschaft globale Bekanntheit erfuhr. Es ist kurz vor Mitternacht und alle sind sie mit viel Stolz und Liebe Brasilianer. Aber Stolz und Liebe sind diesmal nicht genug. Eine halbe Stunde später streckt Brasilien die Waffen, es handelt sich im konkreten Fall um Arme, sie werden in Rio gern als die besten der Welt besungen.
Kein Gold ist dem olympischen Gastgeber so wichtig wie das im Volleyball, es soll gleich viermal Glanz auf die Nation werfen: je zweimal am Strand und in der Halle, und die Könige im einstigen Kaiserreich Brasilien sind die Männer, die im Maracanazinho vorspielen, der kreisrunden Halle direkt neben dem riesigen Maracana, in dem die Nation vor einer Woche so angenehm bescheiden die Eröffnung der Spiele gefeiert hat. Eher unfreiwillige Bescheidenheit kennzeichnet das Vorrundenspiel der Seleçao de Voleibol gegen die USA. Es geht 1:3 verloren, trotz 10.000 in der erdrückenden Mehrheit den Brasilianern zugeneigten Fans und trotz des schönen Liedes, das sie alle zusammen singen. Still und traurig leert sich das Maracanazinho. Rio de Janeiro geht weinend zu Bett.
Der Neymar des Volleyballs heißt Lucarelli
Volleyball ist in Brasilien die populärste Sportart hinter dem Fußball, der im Alltag alles erschlägt, aber bei Olympia relativiert sich das. Brasilien schickt zwar Neymar auf den Rasen, den Zauberkünstler vom FC Barcelona. Aber Neymar gefällt sich in den Tagen von Rio als Kritiker des Publikums, dazu kickt er wie seine Kollegen auf bescheidenem Niveau, und auch in Brasilien herrscht Konsens darüber, dass Fußball bei Olympia keine Hauptrolle spielt. Der Neymar des Volleyballs ist wie das Original 24 Jahre alt, aber einen Kopf größer. Ricardo Lucarelli de Souza verdient sein Geld in der Heimat in Taubaté, einem Städtchen im Bundesstaat Sao Paulo, wie ohnehin fast alle Spieler der Seleçao de Voleibol ihr Geld in Brasilien verdienen. Für die Beliebtheit ist das ein nicht ganz unwesentlicher Faktor.
Bei der WM vor zwei Jahren ist Lucarelli zum besten Außenangreifer gewählt worden und hat Brasilien im Finale von Katowice doch nicht vor einer Niederlage gegen den Gastgeber Polen bewahren können. Es war nach zuvor drei WM-Titeln in Folge ein kleiner Rückschlag, aber viel wichtiger ist Olympia. Lucarelli wird im Maracanazinho mit einer Lautstärke empfangen, auf die selbst Neymar neidisch wäre. Und doch tut er sich schwer, ins Spiel zu finden. Den ersten Punkt macht der riesige Schlacks nach zehn Minuten, kurz darauf schlägt er mit 112 Stundenkilometern ein Ass, aber schon den nächsten Aufschlag drischt er ins Netz. Das Publikum seufzt und Lucarelli entschuldigt sich bei den Kollegen. Nach zwanzig Minuten muss Brasilien den ersten Satz verloren geben.
Der Applaus für den Gegner ist kurz
Das Publikum verzeiht ihm großzügig. Schon bei den beiden Auftaktsiegen gegen Mexiko und Kanada hat Brasilien am Anfang gefremdelt und am Ende doch deutlich gewonnen. Gelb-grüne Laserblitze flackern an die Decke des Maracanazinho, was sich in etwa mit Maracanalein übersetzen lässt. Brasilien hat hier 1963 die Basketball-Weltmeisterschaft gewonnen, jetzt soll der Olympiasieg im Volleyball folgen. Das Maracanazinho ist, bei allem Respekt vor den neuen Arenen im neuen Stadtteil Barra, die schönste Olympiahalle von Rio. Kreisrund, wie auch das Maracana einmal aussah, dazu mit einer perfekten Akustik, die noch jeden Gegner einschüchtert. Mal abgesehen von den US-Amerikanern.
Team USA hat seine ersten beiden Vorrundenspiele verloren und ist doch im entscheidenden Augenblick wieder da. Der US-Block ist großartig und gestattet Lucarelli kaum einen Punktgewinn. Es kommt zu spektakulären Ballwechseln, das Publikum rast, aber der Erfolg bleibt eine Domäne des Gastes. Auch der zweite Satz geht an die Amerikaner, Lucarelli hebt hilflos die Arme. „Wir müssen jedes Spiel so aggressiv angehen, dass der Gegner keine Luft zum Atmen bekommt“, hat er vor dem Spiel gesagt, aber jetzt schnappen die Brasilianer nach Luft.
Es ist nicht Lucarelli, sondern sein Kollege Wallace de Souza, der Brasilien im Spiel hält. Wallace trägt einen Bart wie der junge Fidel Castro und schaut so melancholisch in die Runde wie Brasiliens früherer Fußballheld Socrates. Gegen Ende des dritten Satzes springt er über die Bande und animiert mit beiden Armen das Publikum zum Singen. „Eu sou Brasileiro, com muito orgulho, com muito amor.“ Das Maracanazinho mobilisiert noch einmal alle Kräfte und Brasilien gewinnt den dritten Satz. Endlich macht Lucarelli seine Punkte und für ein paar Minuten steht das Spiel auf der Kippe.
Aber Brasilien ist nicht Brasilien in dieser Nacht, jedenfalls nicht so, wie es sich die Brasilianer vorstellen. Lucarelli fällt zurück in Lethargie, die US-Amerikaner spielen groß auf, völlig unbeeindruckt vom Lärm im Maracanazinho, und den finalen Satz gewinnen sie so leicht und locker, wie es sich die Brasilianer von ihrer Mannschaft erhofft hätten. Ein letztes Mal zucken gelb-grüne Blitze, dann ist es vorbei. Brasilien kann auch verlieren, und es verliert mit Anstand. Kurzer, anerkennender Applaus für den Sieger, in der Vorrunde ist das noch zu verkraften. Still und traurig leert sich das Maracanazinho. Rio de Janeiro geht weinend zu Bett. Es ist kurz vor halb eins, in zehn Minuten fährt die letzte Metro.