Deutsche Nationalelf: Kann Joachim Löw als Bundestrainer noch mal funktionieren?
Fußball-Bundestrainer Löw ist so umstritten wie noch nie. Er muss sich nach 13 Jahren im Amt neu erfinden – bewegt sich aber in einem komplizierten Umfeld.
Die neue Zeit erinnerte in vielem noch an die alte. Das Vorprogramm vor dem Länderspiel zum Beispiel war nach wie vor eine Zumutung für alle etwas sensibleren Gemüter. Die Regler wurden wieder ganz nach oben gezogen, weil Lautstärke mit Stimmung verwechselt wird, und der Stadionsprecher röhrte wie ein brunftiger Hirsch ins Mikrofon. Neu war immerhin, dass bei der Mannschaftsaufstellung kurze Filmsequenzen der deutschen Fußball-Nationalspieler auf den Videoleinwänden im Stadion zu sehen waren. Da wurde der Daumen gereckt oder mit dem Ball jongliert, nur Joshua Kimmich begnügte sich damit, einfach Joshua Kimmich zu sein: Er blickte angestrengt grimmig in die Kamera und zeigte sonst keinerlei Regung. Nach den Spielern erschien Joachim Löw, der Bundestrainer, auf den Leinwänden. Er lächelte freundlich. Dann legte sich ein Schatten auf sein Gesicht.
Dabei versucht Joachim Löw doch gerade, aus dem Schatten wieder ins Licht zu treten.
Der persönliche Geschmack teilt Löw-Fans und Löw-Gegner
Hinter dem Bundestrainer liegt ein reichlich unerquickliches Jahr: mit dem historisch schlechten Abschneiden bei der Weltmeisterschaft in Russland, mit dem Abstieg in der Nations League, all der Kritik an seinen Entscheidungen und den Zweifeln an seinem Arbeitsethos. 59 ist Joachim Löw im vergangenen Monat geworden. Spätestens in diesem Alter fangen viele an, darüber nachzudenken, wie sich ein möglichst reibungsloser Übergang ins Rentnerdasein organisieren lässt, ohne allzu große finanzielle Einbußen versteht sich. Joachim Löw aber will sich mit knapp 60 und nach beinahe 13 Jahren als Bundestrainer ein weiteres Mal neu erfinden.
Kann das funktionieren? Vor allem: Kann Joachim Löw, nach allem, was passiert ist, als Bundestrainer noch einmal funktionieren?
In den vergangenen Tagen, rund um die Ausbootung von Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller und die ersten beiden Länderspiele des Jahres 2019, hat die Löw-Exegese ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Von einer seriösen wissenschaftlichen Disziplin kann natürlich keine Rede sein, weil die Bewertung des Bundestrainers und seiner Arbeit längst vom persönlichen Geschmack abhängt. Die einen können Löw einfach nicht verzeihen, dass er nach dem Vorrundenaus bei der WM nicht den Anstand aufgebracht hat, die Verantwortung für das Scheitern zu übernehmen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Die anderen halten ihn weiterhin für einen guten Trainer, der die Nationalmannschaft seit der Mitte des vergangenen Jahrzehnts in die Moderne geführt hat. Beide Schulen stehen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber.
Er spricht von einer neuen Zeitrechnung
Am Freitag voriger Woche ist Löw nach einem ausgedehnten Winterschlaf zum ersten Mal wieder öffentlich aufgetreten. In der Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) sollte er erklären, warum er künftig nicht mehr mit den verdienten Nationalspielern Müller, Hummels und Boateng plane. Er tat dies mehr auf Geheiß seines Arbeitgebers als aus freien Stücken. Medientermine sind dem Bundestrainer über die Jahre irgendwie lästig geworden, längst hat er sie auf ein Mindestmaß reduziert, auch wenn er gelegentlich das Gegenteil erzählt. Dabei verfügt Löw durchaus über die Gabe, den Fußball gewinnbringend zu erklären.
Bei der Pressekonferenz in der DFB- Zentrale im Frankfurter Stadtwald aber wirkte er blass und uninspiriert. Und gelächelt habe er auch nicht, schrieben die Exegeten. Seitdem versucht Löw ein Gefühl des Aufbruchs zu vermitteln. Vor dem Testspiel gegen Serbien in dieser Woche hat er viel von einem Neubeginn gesprochen, von einer neuen Zeitrechnung und all den jungen Spielern, von deren Elan sich auch der Bundestrainer offenbar wieder mitreißen lassen will. Klarheit, Entschlossenheit und Dynamik hat Löw von der Mannschaft eingefordert. Nichts anderes wird auch von ihm selbst verlangt: klare Kriterien für seine Nominierungspraxis, stringente Entscheidungen, die sich vor allem nach dem Leistungsprinzip richten.
Rund um die WM vor einem Jahr hat sich Löw, der Trainer des Weltmeisters, in der Rolle des selbst ernannten Visionärs gefallen, als vermeintlicher Vordenker des modernen Fußballs – und dann wurde er von den Mexikanern mal eben mit einer simplen Kontertaktik überrumpelt, ohne dass er in irgendeiner Art auf den Auftritt seiner Mannschaft zu reagieren vermochte. Statt Visionär muss Löw künftig wieder Held der Arbeit werden. Nicht rumspinnen, sondern einfach machen.
Vielleicht liegt ihm diese Rolle sogar: Fußballlehrer sein, nicht abgehobener Professor. Gegen Serbien in dieser Woche spielte die Mannschaft eine Halbzeit lang träge und uninspiriert. In der Pause reagierte Löw. Er erklärte die Laufwege, brachte Marco Reus, später auch Leon Goretzka, und fortan richtete seine Mannschaft ihr Tun deutlich stärker als zuvor auf die Offensive aus. Nach einer knappen Stunde passte Reus zu Goretzka, und Goretzka traf zum 1:1-Endstand. Später, bei der kleinen Fragerunde im Fernsehen und bei der Pressekonferenz, wirkte Löw alles in allem nicht unzufrieden. Das Podium verließ er mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Lasst’s euch gut gehen in Wolfsburg“, sagte er im Abgang zu den Journalisten.
Die Ausbootung von Müller, Hummels und Boateng ist für ihn alternativlos
An diesem Sonntag (20.45 Uhr, live bei RTL) kehrt der Bundestrainer mit seiner Mannschaft an den Ort zurück, an dem im Oktober die alte Zeit zu Ende gegangen ist. In der Johan-Cruyff-Arena in Amsterdam ist es den Deutschen damals gar nicht gut gegangen: 0:3 verloren sie gegen Holland. Anschließend wurde der Überdruss an Löws Weiter-so-Politik derart gewaltig, dass der Bundestrainer gar nicht anders konnte, als auf den anschwellenden öffentlichen Unmut zu reagieren. Drei Tage später ließ er in Paris gegen den Weltmeister Frankreich eine ganz andere Mannschaft ran. Eine, die jung war, flink spielte – und am Ende genau deshalb ein Gefühl von Aufbruch vermittelte. Trotz einer unglücklichen 1:2-Niederlage. Damals wirkte es noch so, als habe Löw erst zu seinem Glück gezwungen werden müssen. Inzwischen hat er sich den Erneuerungskurs zu eigen gemacht. Seine Entscheidungen gegen Müller, Hummels und Boateng nennt er alternativlos. „Wenn man solche Entscheidungen trifft, geht man ein gewisses Risiko ein“, sagt Löw. „Rückschläge muss man einkalkulieren.“
Es sollten nur nicht zu viele werden, weil der Bundestrainer die Nachsicht des Publikums nicht allzu sehr strapazieren darf. Die Reaktionen auf die Ausbootung der drei Weltmeister haben gezeigt, in welch komplizierten Umfeld Löw sich weiterhin bewegt. Selbst die, die schon lange gefunden haben, dass Hummels, Müller und Boateng nach ihren Leistungen nicht mehr zwingend in die Nationalmannschaft gehören, kritisieren jetzt den Zeitpunkt ihrer Ausbootung und/oder die Art und Weise.
Jürgen Klinsmann, Löws Vorgänger als Bundestrainer und in jener Zeit sein Vorgesetzter, hat vor einer Woche in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ die „Alarmstufe Rot“ ausgerufen: „Er muss jetzt Erfolg haben, die Ergebnisse müssen stimmen“, sagte er über seinen früheren Assistenten. „Die Fans wollen jetzt sehen, dass es funktioniert.“
Klinsmann verglich den Bundestrainer mit einem Konzernchef, der auch gute Resultate liefern müsse, sonst „musst du irgendwann gehen“. Darauf angesprochen, sagte Löw: „Sie können mir glauben, dass ich schon auch verstehe, mit Druck umzugehen. Mit Kritik komme ich generell klar.“
Der DFB ist Löw ausgeliefert
Der coole Jogi, der alles im Griff hat. Dieses Bild hat Löw immer schon am liebsten von sich vermittelt, gerade bei den großen Turnieren, wenn die öffentliche Erwartung und die allgemeine Erregung ins Unermessliche steigen. Doch die Neuerfindung des Bundestrainers bei laufendem Betrieb hat noch einmal einen besonderen Schwierigkeitsgrad. Der grundlegende Konstruktionsfehler ist, dass der Deutsche Fußball-Bund Löws Weiterbeschäftigung nach dem WM-Desaster nicht aus einer Position der Stärke heraus getroffen hat, sondern aus einer Position der Schwäche.
Der DFB hatte nicht nur keinen anderen Bundestrainer, er hätte im Zweifel auch keine Idee gehabt, wer der andere hätte werden können. Deshalb hat er sich Löw bedingungslos ausgeliefert – und deshalb bleibt ihm jetzt auch keine andere Möglichkeit, als alle Entscheidungen des Bundestrainers nachträglich abzunicken. Mit erfahrenen Spielern weitermachen. Fand DFB-Präsident Grindel gut. Die erfahrenen Spieler auszusortieren, weil ein Umbruch alternativlos ist. Findet DFB-Präsident Grindel jetzt ebenfalls gut. Kein Wunder, dass Löw irgendwann geglaubt hat, er könne machen, was er wolle.
Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, ist Anfang dieser Woche zum allgemeinen Zustand des deutschen Fußballs befragt worden. Er hat in diesem Zusammenhang einen Satz gesagt, der eigentlich auch ganz gut auf Joachim Löw und seine Situation in den vergangenen Wochen und Monaten zutrifft: „Wenn eine Krise zu etwas gut ist, dann dazu, dass man sich seiner Situation bewusst wird.“