Liverpool in der Champions League: Jürgen Klopp, der Menschenfänger
"Klopp-Teams treten wie eine Sekte auf", sagt ein früherer Spieler. Aus Liverpool hat Klopp die Mannschaft der Stunde gemacht – aber noch nichts gewonnen. Ob es ihm durch sein Führungstalent gelingt?
Die vielleicht interessanteste Szene im Viertelfinalhinspiel der Champions League zwischen dem FC Liverpool und Manchester City war nicht etwa das Traumtor von Alex Oxlade-Chamberlain oder eine der schier unendlichen Liverpooler Balleroberungen im kaputt gepressten Mittelfeld. Die Szene mit der wohl größten Aussagekraft hatte sich bereits vor Anpfiff ereignet.
Marco Streller, der frühere Stuttgarter Bundesliga-Profi und heutige Sportdirektor beim Schweizer Meister FC Basel, saß da als Experte im Sky-Studio und berichtete von seiner ersten Zusammenkunft mit Liverpools Trainer Jürgen Klopp: „Wir kannten uns vorher nicht, aber ich hatte das Gefühl, er wusste alles über mich. Dabei war ich nur ein durchschnittlicher Bundesliga-Stürmer. Er hat mich in ein paar Minuten so beeindruckt, ich wäre sofort durchs Feuer für ihn gegangen.“ Dabei hat Streller nie für, sondern immer gegen Klopp gespielt.
Klopp-Teams treten "wie eine Sekte" auf
Eine Aussage, die zeigt, warum Jürgen Klopp derart erfolgreich ist und weshalb Spiele wie das 3:0 vor einer Woche gegen Pep Guardiolas vermeintliche Übermannschaft überhaupt möglich sind. Denn Spieler, die ihren Trainer nicht leiden können, jagen auch nicht anderthalb Stunden lang unermüdlich über den ganzen Platz.
Spieler von Klopp aber tun genau das. Weil er die Fähigkeit besitzt, sie für sich zu gewinnen und sie zu verbessern. Das Beispiel des ägyptischen Stürmers Mohamed Salah, mit 38 Pflichtspieltoren erfolgreichster Torschütze Europas, belegt das. Doch dem Menschenfänger Klopp gelingt es auch, aus einem Star-Ensemble eine Einheit zu formen. Der frühere Klopp-Spieler Hanno Balitsch hat einmal gesagt, Klopp-Teams würden „wie eine Sekte“ auftreten.
Alles Argumente dafür, weshalb sich einem Bericht der „Sun“ zufolge nun sogar Real Madrid mit dem 50-jährigen Fußballlehrer aus dem Schwarzwald beschäftigen soll.
Aus dem FC Liverpool, diesem stolzen englischen Klub, der sich über frühere Triumphe definieren muss, weil er seit Jahren und Jahrzehnten nicht mehr viel gewonnen hat und sich überwiegend mit Selters betrinken musste, hat Klopp im europäischen Konzert die Mannschaft der Stunde gemacht.
Selbst Real Madrid, das den dritten Europapokal in Folge anstrebt, und die unter Jupp Heynckes wiedererstarkten Bayern werden von den Reds in diesen Tagen überstrahlt. Vor dem Rückspiel gegen City am Dienstag (20.45 Uhr/Sky) hält Liverpool diverse Bestmarken im Turnier: die meisten erzielten Tore (31 Tore), die meisten Spiele ohne Gegentreffer (sechs), den besten Vorbereiter (James Milner, acht Torvorlagen). Das zu sind die Reds neben dem FC Barcelona als einziges Team noch unbesiegt (fünf Siege, vier Remis). Und so lockt die erste Teilnahme an einem Halbfinale der Champions League seit 2008.
Die Bewährungsprobe steht noch aus
Doch ganz zu alter Stärke hat Jürgen Klopp den 18-maligen englischen und fünffachen europäischen Champion noch nicht wieder geführt. Denn zur Wahrheit gehört, dass der FC Liverpool von schweren Gegnern weitgehend verschont blieb. Während sich Real Madrid bereits mit Kalibern wie Tottenham Hotspur, Borussia Dortmund, Paris Saint-Germain oder nun Juventus Turin messen musste, ist City das erste Schwergewicht für Liverpool. Zuvor wurden Spartak Moskau, Sevilla, Maribor und Porto bespielt.
Auch in der Liga ist Klopp noch nicht da, wo er hin will. 67 Punkte nach 33 Spielen sind ordentlich, aber auch nur ein Zähler mehr als zum selben Zeitpunkt vor einem Jahr. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir einen Titel gewonnen haben, wenn wir in vier Jahren hier sitzen“, hatte Klopp bei seiner ersten Pressekonferenz in Liverpool gesagt.
Ein Versprechen, das noch auf seine Einlösung wartet. Europapokalnächte wie die gegen City erhöhen aber die Wahrscheinlichkeit. Und sie führen dazu, dass Klubbesitzer und Fans für Jürgen Klopp durchs Feuer gehen. Vorerst auch ohne Titel.
Steven Wiesner