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Kaum zu stoppen. Joshua Kimmich überzeugte gegen Nordirland mit vollem Einsatz.
© Reuters

Überragend gegen Nordirland: Joshua Kimmich: Der Rollenspieler

Joshua Kimmich beeindruckt in seinem ersten EM-Spiel – vor allem offensiv. Geht Joachim Löw auch in der K.o.-Phase das Risiko mit dem ungelernten Außenverteidiger ein?

Mit einem Blick erfasste Joshua Kimmich die Situation, er sah den freien Raum und schritt entschlossen hindurch. Was in diesem Fall aber auch nicht ganz so schwer war. In der Mixed-Zone werden die Fußballer von bauchhohen Balustraden vor dem Zugriff der Journalisten beschützt, und weil bei Kimmichs Abgang aus dem Pariser Prinzenpark auch keiner seiner Kollegen den Laufweg versperrte, war er ziemlich schnell in den Pariser Abend verschwunden. Gesagt hat er nichts mehr.

Joshua Kimmich widerstand der Versuchung, nach seinem zweiten Länderspiel, seinem ersten bei der EM in Frankreich, den großen Zampano zu markieren. Mit gesenktem Blick zog er an den Medienvertretern vorbei, als wäre ihm das Interesse an seiner Person irgendwie unangenehm. Dabei heben alle Eingeweihten immer wieder sein großes Selbstbewusstsein hervor. „Klar ist es was Besonderes“, hatte der 21-Jährige zuvor im Fernsehen über sein EM-Debüt gesagt, von dem ihn der Bundestrainer tags zuvor in Kenntnis gesetzt hatte. „Ich versuche, das nicht an mir vorbeirauschen zu lassen. Alles ist anders, größer. Das ganze Land schaut zu und fiebert mit – das ist auch zu spüren.“

Gegen Nordirland hatte Bundestrainer Joachim Löw den Profi des FC Bayern München als rechten Außenverteidiger anstelle von Benedikt Höwedes aufgeboten. „Er hat ein ausgezeichnetes Spiel gemacht", sagte Sami Khedira. „Er hat das gespielt, was ich erwartet hatte. Ich hatte auch hohe Erwartungen“, befand Thomas Müller. Und Mats Hummels sagte: „Er hat einen sehr guten Job gemacht, das hat uns aber nicht überrascht.“

Kimmich scheint sowieso niemanden mehr zu überraschen. Vor einem Jahr noch hat er in der Zweiten Liga gespielt – inzwischen darf er sich als Stammkraft bei den Bayern fühlen. Vor allem seine Fähigkeit, sich auf ungewohnte Rollen einzulassen, hat seinen Ruf begründet und ihm letztlich einen Platz im EM-Aufgebot eingebracht. Kimmich ist eigentlich defensiver Mittelfeldspieler, gespielt aber hat er in der Rückrunde vor allem als Innenverteidiger, wohingegen der Bundestrainer ihn für die Europameisterschaft von Anfang an als Rechtsverteidiger eingeplant zu haben scheint. Die Öffentlichkeit hat sich dieser Idee längst angeschlossen, obwohl es eigentlich keine ausreichenden Belege aus der Praxis gibt, dass Kimmich diese Position wirklich beherrscht.

Kimmich war neben Toni Kroos der einzige Spieler, der auf mehr als 100 Ballkontakte kam

Trotzdem hat sich nach den ersten beiden EM-Spielen eine Bürgerbewegung „Pro Kimmich“ formiert, die sich für die Ablösung von Benedikt Höwedes stark gemacht hat. Joachim Löw ist kein Freund davon, die Aufstellung basisdemokratisch ermitteln zu lassen. Und seine Einlassungen vor dem Nordirland-Spiel haben nicht unbedingt darauf hingedeutet, dass er dem Willen des Volkes folgen würde. Aber die Erfahrung zeigt auch, dass sich eine Mannschaft im Laufe eines Turniers verändert. Das war 2008 bei der EM so, als Löw nur widerwillig von seinem 4-4-2-System auf ein 4-2-3-1 umstellte. Das war vor zwei Jahren in Brasilien so, als er sich lange weigerte, Philipp Lahm in die Viererkette zurückzuziehen. Und das könnte auch jetzt mit Joshua Kimmich so sein. „Es war genau die richtige Entscheidung vom Coach, ihn zu bringen“, hat Benedikt Höwedes auf seiner Facebook-Seite geschrieben. „Wir waren gefährlicher im Spiel nach vorn.“

Kimmich (104) war neben Toni Kroos (145) der einzige Spieler auf dem Platz, der auf mehr als 100 Ballkontakte kam. Anders als in den ersten beiden Begegnungen lief diesmal deutlich mehr über die rechte Seite als über die linke. Das lag auch oder vor allem an Kimmich. „Ich habe ihn sehr gut gesehen“, sagte der Bundestrainer. „Er hat sehr gute Wege gemacht, war anspielbereit und hat immer wieder den Abwehrspieler beschäftigt.“ Niemand schlug mehr Flanken als Kimmich (neun), mit seinen Zuspielen, hoch oder flach, bereitete er vier gute Torchancen vor.

So ging der Abend mit einigen positiven Erkenntnissen zu Ende: Mesut Özil hat wieder Lust am Fußball, Mario Gomez schießt selbst gegen ultradefensive Mannschaften Tore, und Joshua Kimmich taugt auch als Rechtsverteidiger. Aber alle positiven Erkenntnisse waren gewissermaßen mit einem Sternchen versehen und der Anmerkung: Bitte nicht vergessen, es war nur Nordirland.

Im Grunde ist noch gar nicht abschließend geklärt, ob Kimmich wirklich zum Rechtsverteidiger taugt – weil er gegen die Nordiren nicht als Rechtsverteidiger spielte, sondern als Rechtsaußen. In der Defensive wurde er nicht ernsthaft gefordert. In dieser Teildisziplin gilt Höwedes ohnehin als stärker; aber für einen Gegner wie Nordirland brauchte Löw explizit andere Qualitäten, da hielt er Kimmich für „prädestinierter als Höwedes“. Im Achtelfinale, wenn der nächste defensive Gegner wartet, wird es wohl wieder so sein.

Benedikt Höwedes hat bei Facebook über seine Versetzung auf die Bank geschrieben: „Wir müssen uns alle dem großen Ziel unterordnen und alle die Egos hintanstellen. Es ist normal, wenn andere Spieler hin und wieder Einsatzzeit bekommen.“ Das hört sich generös an, impliziert aber auch, dass er sich immer noch als Stammkraft hinten rechts sieht, der „hin und wieder“ zurückstehen muss. Wenn er sich da mal nicht täuscht.

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