Fifa-Skandal: Joseph Blatter ist nur das Symptom
Fifa-Experte Alan Tomlinson über die Ursachen der systematischen Korruption im Fußball-Weltverband.
Am Mittwoch und Donnerstag tagt das Exekutivkomitee der Fifa in Zürich. Bei der Sitzung fehlen Präsident Joseph Blatter und sein Vize Michel Platini. Beide sind wegen Korruptionsverdachts für 90 Tage suspendiert, ihnen drohen lebenslange Sperren. Ohne die beiden Spitzenfunktionäre berät die Fifa-Regierung über die eigene Zukunft, den Stand der staatlichen Ermittlungen gegen den Fußball-Weltverband und Vorschläge des Reformkomitees. Dabei liegt das Problem im System selbst, wie unser Autor meint.
Als die US-Justizministerin Loretta Lynch am 27. Mai Anklage gegen neun Fifa-Funktionäre und fünf Führungskräfte und neun Funktionäre der Fifa wegen erpresserischer Verschwörung und Korruption erhob, reagierte die Welt schockiert – und war doch kaum überrascht. Ja, dieses Szenario war vorhersehbar. Aber es entfaltete sich mit der dramatischen Unerbittlichkeit einer theatralischen Tragödie.
Im Jahr zuvor hatte der Fifa-Präsident Joseph S. Blatter während der karnevalesken Weltmeisterschaft in Brasilien seine Zeit in der virtuellen Welt des Luxushotels Copacabana Palace an der Copacabana von Rio de Janeiro damit verbracht, sich vor der Wirklichkeit zu verstecken. Ein weiteres Jahr zuvor beim Confed-Cup ebenfalls in Brasilien war Blatter er in derselben Stadt bei jeder Gelegenheit verhöhnt und ausgepfiffen worden. Graffiti und Plakate wie „Fifa go home!“ oder „Fuck Fifa!“-Plakate prangten von den Mauern und klebten an den öffentlichen Plätzen in ganz Brasilien, vom Amazonas-Außenposten in Manaus bis zum kosmopolitischen Rio. Blatter und seine Cashcow namens Fußball-WM waren auf einmal vergiftete Marken, das Akronym Fifa stand auf einmal für eine dramatisch anwachsende Verachtung.
Und doch ging Blatter in das Jahr 2015 mit der Bereitschaft, eine fünfte Amtsperiode als Fifa-Präsident in Angriff zu nehmen. Es gab einen Aufschrei der Opposition, aber im Wahlkampf hatte Blatter es dann nur mit einen unerfahrenen jordanischen Prinzen zu tun. Blatter mobilisierte seine Gefolgschaft im Fifa-Kongress und erzielte in der Wahl gegen Ali bin Hussein ein Ergebnis von 133 zu 73 Stimmen. Das entsprach nicht ganz der für den Sieg notwendigen Zweidrittelmehrheit, war aber deutlich genug, um Prinz Ali von einem zweiten Wahlgang abzubringen. Blatter Gefolgsleute, vor allem aus Asien und Afrika, brachten ihre Dankbarkeit und Loyalität zum Ausdruck und verwiesen darauf, wie viel Blatter doch für sie und für die Entwicklung des Fußballs in ihren Ländern getan habe. Einige von ihnen behaupteten sogar, Blatters Kritiker und Gegner wären nichts anderes als Imperialisten und/oder Rassisten.
Das Netz hat sich zugezogen über den Mitgliedern dieses Zirkels
Aber keine drei Tage später verkündete Blatter, dass ihm so überraschend knapp angetragene Mandat sei nicht eindeutig genug, als dass er eine volle Amtszeit absolvieren könne. Er versprach seinen Rückzug an für die Zeit nach der Wahl eines Nachfolgers. Vier weitere Monate später sah er sich plötzlich für 90 Tage von allen Fifa-Aktivitäten suspendiert, und das von seiner eigenen Ethikkommission. Neben Blatter traf es auch dessen langjährigen Protegé, Uefa-Präsident Michel Platini, und Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke. Das Netz hatte sich zugezogen über den Mitgliedern eines ausgedehnten Netzwerkes. Die Ankläger definieren diesen Zirkel als „Racketeer Influenced Corrupt Organisation“, was sich in etwa mit „von Kriminellen beeinflusste korrupte Organisation“ übersetzten lässt. Der „Racketeer Influenced an Corrupt Organization Act“ ist ein 1970 verabschiedetes Bundesgesetz der Vereinigten Staaten. Ziel dieses Gesetzes ist es laut der Rechtsprofessorin Pamela Pierson, „in kriminelle Organisation einzudringen und diejenigen ausfindig zu machen, die die kriminellen Aktionen zu verantworten haben, und sie von deren Untergebenen und der Bürokratie zu isolieren“.
Mitte September kündigte Loretta Lynch an, weitere Verhaftungen seien mehr als wahrscheinlich, und es könnte ganze auch ganze Unternehmen und Fußball-Gremien treffen. Sie wollte sich nicht dazu äußern, ob möglicherweise Blatter selbst zu diesem Kreis gehören würde. Mittlerweile sind Blatter und Platini von Schweizer Behörden befragt worden. Blatter als „Verdächtiger“ wegen seiner Rolle bei der Vergabe dubioser Medienverträge an den ehemaligen Fifa-Vizepräsidenten Jack Warner aus Trinidad&Tobago. Sprengstoff birgt, dass in einem weiteren Verfahren Blatter und Platini („irgendwo zwischen Verdächtigem und Zeugen“) befragt wurden – wegen einer mündlich vereinbarten Zahlung an Platini über 1,8 Millionen Euro im Jahr 2011. Diese Summe war Platini kurz vor jener Fifa-Präsidentenwahl überwiesen worden, bei der Blatter für seine vierte Amtsperiode gewählt wurde – angeblich handelte es sich dabei um ein Honorar für Leistungen, die Platini zwischen 1998 und 2002 erbracht hatte, aber damals sei es der Fifa finanziell schlecht gegangen. Dazu muss man wissen, dass Platini seine Reputation als früherer Weltstar eingebracht hatte, als Blatter als 1998 erstmals zum Fifa-Präsidenten gewählt wurde.
Die Fifa hob Blatter schließlich selbst aus dem Chefsessel
nfang Oktober, nur drei Wochen vor dem Ende der Nominierungen für die Fifa-Präsidentenwahl im Februar 2016, hob die Fifa Blatter selbst aus dem Chefsessel und stellte die Glaubwürdigkeit von Platini in Frage, ihm als Präsident zu folgen. Die Uefa entschied sich für einen Plan B, nominierte ihren Generalsekretär für die Position bei der Fifa, und hatte so einen Alternativkandidaten sicher sollte Platini nicht wählbar sein bei dieser Abstimmung.
Wie konnte es so weit kommen für Joseph Blatter? Für den Mann, der sich 1975 der Fifa anschloss, der die Marketing- und Machtspielchen von seinen Mentoren, dem früheren Adidas-Chef Horst Dassler und dem vorherigen Fifa-Präsidenten João Havelange aus Brasilien, lernte? Wie konnte es so weit kommen für den Mann, den viele immer für den Meister der organisierten Manipulationen gehalten hatten?
Nach Macchiavellis Vorbild machte es der schwer zu greifende und rücksichtslose Blatter zum Prinzip seiner Führung, besser gefürchtet zu werden als geliebt. Nun, da seine Macht sichtbar geschwächt ist, ist auch der Angst-Faktor gesunken.
Blatter ist das Synonym für den Wandel der Fifa vom Prinzip der stillschweigenden Übereinkunft hin zur fast offenen Korruption. Er ist verantwortlich für die Strafanzeigen der Schweizer Justiz 2002 gegen sein Exekutivkomitee. Dabei ging es um Misswirtschaft zu seinen persönlichen Gunsten, dubiose finanzielle Praktiken, Manipulation von Fifa-Prozessen und den Missbrauch der Fifa-Organisationsstrukturen. Er und der Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke wurden 2006 als rundum unzuverlässige Zeugen – im Grunde als Lügner – in einem New Yorker Gericht bezeichnet – wegen ihres Geschäftsgebarens im Umgang mit dem Hauptsponsor Mastercard, den die Fifa zugunsten des Konkurrenten Visa hintergangen hatte.
Indem er alte Verbündete fallen ließ, sich selbst als Anführer des Reformprozesses aufspielte, versuchte Blatter die Botschaft auszusenden, dass er das Fifa-Schiff durch stürmische Gewässer navigierte. Er wurde zum unwiderstehlichen Ziel für politische Karikaturisten und Comedians auf der ganzen Welt, eine kleine Witzfigur mit großer Anmaßung.
Und doch ist die Fifa-Krise nicht allein und in erster Linie eine Geschichte von fehlerhafter Verwaltung und opportunistischer Profitgier durch eigennützige Individuen. Mit der Bedeutung des globalen Rohstoffs namens Fußball-Weltmeisterschaft ist auch das System Fifa an sich gewachsen. Dieses System ist anfällig für die Ambitionen und Manipulationen Einzelner, doch die im Fifa-Skandal aufgelisteten hochkarätigen Namen sollten nicht über die Schlüsselfrage hinwegtäuschen: Unter welchen Bedingungen konnte die Korruption überhaupt so weit gedeihen?
Die Namen der schuldhaften und korrupten Funktionäre ließen sich beliebig austauschen
Es war im Jahr 1931, als unter dem niederländischen Generalsekretär Carl Anton Wilhelm Hirschmann der Großteil des Fifa-Vermögens durch Spekulationsgeschäfte verloren ging. Die Fifa zog von Paris nach Zürich und konstituierte sich neu: mit einem schwer zu durchschauenden System der organisatorischen Autonomie und einem Schutz vor finanzieller Haftbarkeit. Unter der Schweizer Gesetzgebung war es der Fifa möglich, im Sinne einer Non-Profit-Organisation zu wachsen – nur den Bedürfnissen ihrer Mitglieder verpflichtet und verantwortlich allein dem Jahrestreffen der Mitglieder, bei der Fifa ist das bis heute der Kongress.
Man kann die Namen der schuldhaften und korrupten Funktionäre beliebig austauschen: Das Problem ist institutionell verankert und wird systematisch reproduziert. Mit dem Wachsen der Fifa und dem ihrer einzelnen Konföderationen entstand ein tentakelartiges Netzwerk von Funktionären, die das Fußballgeschäft ausnutzen und ihren Wohlstand mehren konnten. Die gemeinnützige Organisation Fifa wurde, in den Worten des Bureau of Public Affairs des amerikanischen Außenministeriums, als „Unternehmen“ ausgebeutet. Eine Reihe miteinander verknüpfter Verbände wurde von Einzelpersonen zur persönlichen Bereicherung genutzt.
Die Ethikkommission der Fifa wird viel Arbeit haben, um herauszufinden, ob etwa Leute wie Franz Beckenbauer von ihrem Zugang zur Fifa auf unmoralische oder gar korrupte Weise profitiert haben. Blatter mag für mehr als 40 Jahre der Architekt dieses Unternehmens gewesen sein. Aber die laxen Schweizer Regulierungen, die kommerziellen Interessen von Fifa-Partnern wie Adidas und gierige Karrieristen aus allen sechs Konföderationen sind die eigentlichen Ursachen des Fifa-Skandals. Blatter von der Bühne zu entfernen wird an der grundsätzlichen Ausrichtung nichts ändern. Ein neuer Präsident mit den reinsten Motiven und dem saubersten Lebenslauf allein kann unmöglich eine Reform in dieser Organisationsstruktur herbeiführen. Dafür ist die Fifa zu sehr an die große Entscheidungsbefugnis ihres Kongresses gebunden.
Blatter ist ein Symptom, nicht die einzige Ursache. Ein Symptom der Fäulnis im Herzen des Schweizer Verbandsmodells, das permanent anfällig ist für systematische Veruntreuung und globale Gier.
Und doch gibt es Hoffnung. Blatter und Platini drohen lange oder lebenslange Sperren für fußballbezogene Aktivitäten und sogar strafrechtliche Untersuchungen. Sollten beide die Fußball-Bühne unehrenhaft verlassen, dann könnten die Fifa und die Kontinentalverbände eine wirkliche Reformagenda in Angriff nehmen. Diese sollte begrenzte Amtszeiten für den Präsidenten, schlankere Komiteeprozesse mit bedeutsamen Informationen, die Einführung finanzieller Transparenz und Beschränkungen für die Macht potenziell diktatorischer Präsidenten einschließen.
Wenn der Wille dazu besteht, könnte das fragile und anfällige Schweizer Verbandsmodell überleben. Und das sogar, wenn die Ermittlungen gegen die Schuldhaften und Korrupten die Welt weiterhin an eine Fifa-Epoche erinnern, deren Beitrag weitgehend als schmutzige, dunkle oder hässliche Seite des vermeintlich schönen Spiels angesehen werden.
Alan Tomlinson ist Professor für Leisure Studies an der Universität Brighton. Er forscht seit 30 Jahren zum Thema Fifa und ist Autor des Buches „FIFA: The Men, the Myths and the Money“ (Routledge, 2014). Übersetzung: Sven Goldmann, Christian Hönicke.
Alan Tomlinson
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