Der Neuanfang mit der Nationalmannschaft: Joachim Löw: Warum erst jetzt?
Durch das 1:2 gegen Frankreich hat die deutsche Nationalmannschaft droht der Abstieg aus der Nations League - trotzdem kann sich die Niederlage als wertvoll erweisen.
Joachim Löw erledigte pflichtschuldig die Formalitäten. Er schlug den kurzen Weg nach links ein, gratulierte seinem Kollegen Didier Deschamps, verabschiedete sich auch noch per Handschlag von dessen Assistenten, dann kehrte er um. Löw widerstand der Versuchung, das Spielfeld zu betreten, um seine Spieler in Empfang zu nehmen. Er suchte gleich den Ausgang und begab sich schließlich in den Tunnel. Der Bundestrainer wirkte in diesen Momenten wie ein geschlagener Verlierer. De facto war er das auch nach der 1:2-Niederlage gegen Frankreich. Und auch wieder nicht. "Diese Niederlage fühlt sich ein bisschen anders an als am vergangenen Samstag gegen Holland", sagte Löw.
Das 1:2 gegen den Weltmeister hat böse Folgen für die Deutschen: Die Endrunde der Nations League können sie nun definitiv nicht mehr erreichen. Stattdessen deutet alles auf einen Abstieg aus der Erstklassigkeit hin. "Im Moment sieht es sehr schlecht aus", sagte Kapitän Manuel Neuer. Gewinnen die Holländer Mitte November ihr Heimspiel gegen die Franzosen, ist der Abstieg der Nationalmannschaft bereits ohne eigenes Zutun und vor dem finalen Duell gegen die Niederlande besiegelt. Es würde passen zu diesem dunklen Jahr, das am Selbstverständnis des deutschen Fußball gekratzt hat, das ihm mit dem Vorrundenaus bei der Weltmeisterschaft ein historisches Debakel beschert und in dem die Nationalmannschaft so oft verloren hat wie nie zuvor in der 110 Jahre währenden Länderspielgeschichte. Und doch war da am Dienstag im Stade de France das Gefühl, dass die Nacht vielleicht doch nicht ewig währen wird. Selten ist der deutsche Fußball von einer Niederlage so beseelt gewesen.
Deutscher Fußball beseelt nach der Niederlage
Selbst Toni Kroos ließ sich am Ende - wider Willen - von dem Zauber mitreißen. Als er spät am Abend geduscht und gegelt vor die Presse trat, übte er sich in gewohnter Routine, tat glaubwürdig zerknirscht ob der unglücklichen Niederlage. Kroos spielt bei Real Madrid, da steht Gewinnen gewissermaßen als Präambel in der Vereinssatzung, die Ästhetik des Spiels kommt, wenn überhaupt, erst an zweiter Stelle. "Es wäre schlimm, wenn ich nicht enttäuscht wäre", sagte er also, beklagte, dass man nun mit null Punkten dastehe und sagte dann doch, ziemlich am Ende, den Satz: "Auf dem Platz war es eine der Niederlagen, die am meisten Spaß gemacht haben."
Es war nicht zu übersehen gewesen. Kroos' Spiel war in den vergangenen Monaten bedenklich in die Breite gegangen; gegen die Franzosen aber spielte er plötzlich wieder Pässe in die Tiefe - weil es erstmals wieder Tiefe gab. "Natürlich habe auch ich gerne Optionen", sagte Kroos. Die hatte er, weil die jungen Burschen um ihn herum sich immer wieder anboten. Und auf einmal wirkte auch Kroos, 28 Jahre alt inzwischen, wieder wie 24.
Es war insgesamt kein Vergleich zu den vergangenen Wochen und Monaten, in denen sich die Nationalmannschaft träge und schwergängig präsentiert hatte, routiniert und einfallslos. Gegen den Weltmeister zeigte sie, dass sie auch anders kann, dass sehr wohl jugendlicher Elan in ihr steckt - man muss ihn nur zulassen. "Die Leistung der Mannschaft war großartig", sagte Joachim Löw. "Sie hat ihr Herz in die Hand genommen." Aber das konnte sie nur, weil der Bundestrainer sich zu einer radikalen Wende in seiner Personalpolitik entschieden hatte. Wirkten seine Aufstellungen zuletzt eher so, als wären frühere Erfolge das entscheidende Kriterium gewesen, so bot Löw diesmal alle Spieler auf, die jung und schnell sind. Das Durchschnittsalter der Startelf lag im Schnitt zwei Jahre unter dem der Mannschaft, die gegen Holland 0:3 verloren hatte.
Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, berichtete, dass der Plan zur Umkehr bereits unmittelbar nach der ernüchternden Niederlage in Amsterdam gereift war: "Jogi war schon in der Nacht nach dem Spiel klar: Es muss was passieren, weil einfach Esprit und Energie fehlten." Genau diese Einsicht hatte die Öffentlichkeit eigentlich schon nach der WM erwartet. Stattdessen hielt Löw an den Weltmeistern von 2014 fest, erklärte Erfahrung zum Fetisch - und verpasste damit nach der ernüchternden WM die Chance, ein Gefühl des Aufbruchs zu erzeugen. Dass Löw sich nun revidierte, war daher vor allem ein Sieg gegen sich selbst. Die Zusammenstellung und der Auftritt seiner Mannschaft provozieren aber auch die Frage: Warum erst jetzt? All das hätte der Bundetrainer viel früher haben können.
Joachim Löw zählt nicht zu den Trainern, die für einen unverwechselbaren Stil stehen so wie Pep Guardiola oder José Mourinho. Er hat sich eher durch eine gewisse Anpassungsfähigkeit ausgezeichnet, immer wieder auf die steten Änderungen im modernen Fußball reagiert - wenn auch manchmal unter Schmerzen und mit übergroßer Verzögerung. Auch jetzt schob er das Unvermeidliche so lange vor sich her, dass es fast schon zu spät war. "Heute hat er eine gute Taktik angewandt, mit einem guten System und auch den richtigen Spielern", sagte Torhüter Neuer.
Selten musste Joachim Löw so viel Kritik einstecken
Selten ist so viel Kritik auf Löw eingeprasselt wie in den vergangenen Tagen, von einem Endspiel war die Rede, immer fordernder wurden die Rufe nach Veränderung. Doch Löw hat die Eigenheit, gerade in solchen Momenten besonders stur zu sein. Natürlich legte er nach dem Spiel gegen die Franzosen explizit Wert darauf, nicht dem Druck der Öffentlichkeit nachgegeben zu haben. "Meine Entscheidungen treffe ich nicht, weil es jemand so will - als Trainer trifft man Entscheidungen immer aus voller Überzeugung", sagte er. "Manchmal sind sie falsch, manchmal sind sie richtig. Bei mir waren sie häufig richtig."
Gegen Frankreich standen nur noch drei Spieler auf dem Platz, die aktiv zum Titelgewinn bei der WM 2014 beigetragen hatten; Jerome Boateng fehlte verletzt, Thomas Müller wurde nur für die Schlussminuten eingewechselt. Im Prinzip hat Löw die Etablierten immer noch nicht abgeschrieben. "Die haben den Fußball nicht von heute auf morgen verlernt", sagte er. "Thomas Müller ist nach wie vor wichtig, absolut." Trotzdem wird er nicht mehr hinter dieses Spiel von St. Denis zurückkönnen. "Es hat Mut gemacht", sagte Oliver Bierhoff. "Ich habe eine gute Energie gesehen."
Energie, Leidenschaft, Spaß - das alles war nach den vergangenen Monaten fast wichtiger als das reine Ergebnis, auch wenn dieses Denken im Fußball sehr undeutsch ist. Aber letztlich - und das war immer Löws Überzeugung - führt nur guter Fußball zu guten Ergebnissen. Die jungen Leute in der Offensive machten am Dienstag bei weitem nicht alles richtig. Die Laufwege wirkten nicht abgestimmt, weil sie mangels Training auch nicht abgestimmt waren, der Torabschluss ist nach wie vor ein existenzielles Problem. Aber das sieht man jungen Spielern eher nach als routinierten.
Das Spiel gegen den Weltmeister hat dem arg kritisierten Löw eine Möglichkeit gezeigt, wie er sich vielleicht noch ein weiteres Mal neu erfinden kann. Er muss diese Möglichkeit nun aber auch nutzen. Selbst wenn er das Spiel nicht als Sieg empfinde, "es war ein wichtiges, gutes Zeichen", sagte Manager Bierhoff über den Auftritt in St. Denis. "Es ist mit Sicherheit trotz des schlechten Ergebnisses ein gutes Ergebnis." Vor allem für Joachim Löw.