EM-Viertelfinale Deutschland - Italien: Joachim Löw und seine Fehleranalyse
Löw hat aus seinen Fehlern der Vergangenheit gelernt. Gegen Italien will der Trainer seine Spielidee durchsetzen. Er habe ein gutes Gefühl, sagt Löw.
Joachim Löw war verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt und nicht zu erreichen. Vier Wochen wusste seine berufliche Entourage nicht, wo er steckte, ahnte nicht, was er vorhatte. Der Sommer 2012, die Wochen nach der 1:2-Niederlage im EM-Halbfinale gegen Italien in Warschau, sind wie ein schwarzes Loch in der Biografie des Bundestrainers, das hat in diesen Tagen sogar das französische Fachblatt „France Football“ noch einmal berichtet. Der Abend von Warschau war vermutlich einer der bittersten, die Löw als Bundestrainer erlebt hat – weil er an jenem Abend von den Höhen des Olymps gestürzt wurde. Diese Niederlage sei schmerzlich gewesen und habe ihm unheimlich weh getan, sagt Joachim Löw. „Aber im Nachhinein hat sie uns allen geholfen, sie hat auch mir als Trainer geholfen.“
Löw hat sich als Trainer verändert
Vier Jahre und ein Tag sind seit Warschau vergangen, drei Tage sind es noch bis zum Wiedersehen im EM-Viertelfinale in Bordeaux. Die italienische Mannschaft hat sich verändert, die deutsche Mannschaft hat sich verändert – aber vor allem hat sich Joachim Löw als Trainer verändert. Und dazu hat nicht zuletzt das verlorene Halbfinale 2012 beigetragen. Es war eine von zwei epochalen Niederlagen in Löws Amtszeit. Die erste war bei der WM 2010 das 0:1 gegen den späteren Weltmeister Spanien: ein Spiel, in dem die Deutschen nur hinterherliefen. „Wir wollten gegen die Spanier auch anders spielen“, sagt Löw, „sie haben es nicht so zugelassen.“ Mehr als die Niederlage war es der Verlauf des Spiels, der ihn dazu bewogen hat, die eigene Herangehensweise zu überdenken. Sich zurückziehen, die Spanier machen lassen und sie dann auskontern – das würde gegen dieses Team auch in Zukunft nicht funktionieren. Wie soll man Kontern ohne Ball? Die Halbfinalniederlage in Südafrika war für Löw der Impuls, sich stärker an den Spaniern und deren Ballbesitzfußball zu orientieren.
Gegen Italien machte Löw ziemlich viel falsch
Das 1:2 gegen Italien zwei Jahre später war auf eine andere Art einschneidend – weil diese Niederlage zu großen Teilen selbstverschuldet war. In jenen Juni-Tagen befanden sich die Nationalmannschaft und ihr Trainer eigentlich auf der Höhe ihrer Schaffenskraft. Mit ihrem 15 Pflichtspielsieg hintereinander hatten sie gerade einen neuen Weltrekord aufgestellt. Die Mannschaft wirkte frisch und mutig, und ihr Coach wurde von den Medien als „Jogi Superstar“ gefeiert, als „Liebling Löw“, als „der Mann, der alles richtig macht“. Gegen Italien aber machte Löw ziemlich viel falsch. Mittlerweile sieht sogar er selbst das so. „Man kann sich auch mal verzocken“, sagt er. „Es war für mich auch eine gute Lehre.“
Übermut und Feigheit - eine schlechte Mischung
Die Niederlage entsprang einer Mischung aus Übermut und Feigheit. Einerseits glaubte Löw, dass er gar nicht falsch liegen könnte, egal welche Taktik er seiner Mannschaft verordnen würde; andererseits war er nicht mutig genug, die Mannschaft einfach ihr Ding spielen zu lassen. „An diesem Tag haben wir alle irgendwie nicht die Leistung gebracht, die wir hätten bringen müssen“, sagt er. „Solche Spiele passieren immer mal.“
Das erste der beiden Tore durch Mario Balotelli erzählt die ganze Geschichte des Spiels: Im Zentrum steht Holger Badstuber allein gegen den italienischen Stürmer – weil Mats Hummels sich nach außen hat locken lassen – weil Jerome Boateng es dort mit zwei Italienern aufnehmen muss – weil Andrea Pirlo den Ball aus dem Mittelkreis unbedrängt auf die Seite hat passen können. Es ist eine Fehlerkette, die ihren Anfang bei Joachim Löw genommen hat. Der Bundestrainer hatte das rechte Mittelfeld bewusst freigeräumt, um mit Toni Kroos eine Art ständigen Begleiter für Pirlo aufzubieten. „Es war eine taktische Überlegung, den Pirlo ein bisschen aus dem Spiel zu nehmen“, erinnert sich Löw. „Im Nachhinein ist der Plan nicht aufgegangen.“
In den Tagen vor dem Spiel hatte er einen solchen Plan immer entschieden dementiert – was schon deshalb sehr glaubhaft klang, weil Löw für solche Probleme in der Vergangenheit eigentlich immer intelligentere Lösungen gefunden hatte. Löw hat das Spiel seiner Mannschaft nie auf einen einzigen Spieler des Gegners ausgerichtet. Ein bisschen hat er sich damals gegen die Italiener also auch selbst verraten. Dass ihm das seitdem nicht mehr passiert ist, ist kein Zufall.
Der richtige Weg wurde eingeschlagen
„Wir haben kein Italien-Trauma“, sagt der Bundestrainer vor dem EM-Viertelfinale. „Ich freue mich wahnsinnig darauf.“ Löw gibt sich in Frankreich demonstrativ selbstgewiss, er wirkt überzeugt und überzeugend in allem, was er tut. Viele führen das auf den Titelgewinn in Brasilien zurück, der ihn unangreifbar gemacht hat. Mag sein, dass diese Erfahrung ihn in seiner Haltung noch bestärkt hat; der Ursprung aber liegt in der Niederlage in Warschau. Als Löw in jenem Sommer wieder aus seinem schwarzen Loch gekrabbelt kam, war er noch entschlossener und mehr denn je davon überzeugt, dass er nur dann erfolgreich sein kann, wenn er seiner Idee vom Fußball bedingungslos folgt. „Unser Weg, der stimmt“, hat er im August 2012, bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Niederlage in Warschau, gesagt. „Es gibt keinen Grund, völlig von unserem Konzept abzuweichen.“
Nun setzt Löw auf Stärken
Wenn man in den Tagen bis zum Viertelfinale für jede Benutzung des Worts „Angstgegner“ einen Cent Lizenzgebühren bekäme, wäre man am Ende der Woche vermutlich ein gemachter Mann. Die Italiener gelten als Schrecken der Nationalmannschaft, nie haben sie ein Pflichtspiel gegen die Deutschen verloren. „Natürlich ist es unser Bestreben, die Italiener zu schlagen. Ich habe einfach auch ein gutes Gefühl“, sagt Joachim Löw. „Wir müssen unsere Stärken ins Spiel bringen, unseren Fußball versuchen durchzuziehen.“
Also genau das tun, was sie vor vier Jahren in Warschau nicht gewagt haben.
Stefan Hermanns