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Erstmal mit sich selbst beschäftigt. Joachim Löw nach der 1:2-Niederlage der Nationalmannschaft am Donnerstagabend in Warschau.
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Geplatzter EM-Traum: Joachim Löw: Bundestrainer mit Makel

Sie ließen ihn hochleben. Und seine Mannschaft schien reif zu sein für den Titel. Vorbei. Die Niederlage gegen Italien ist nun vor allem die Niederlage von Bundestrainer Joachim Löw.

In dem Moment, in dem für die deutsche Nationalmannschaft die erste Europameisterschaft in Osteuropa endet, sieht Joachim Löw wie immer ziemlich lässig aus. Er steht aufrecht, hat seine Hände in den Hosentaschen vergraben und ist entschlossen, auch in der Niederlage Größe zu zeigen. Löw bewegt sich in kleinen Schritten auf das Epizentrum des Jubels zu, er sucht Cesare Prandelli, den italienischen Nationaltrainer, will ihm zum Einzug ins Finale gratulieren, wie man das unter Kollegen macht. Aber bei den Italienern achtet niemand auf Löw. Sie hüpfen umher, sie tanzen, sie springen sich in die Arme. Der Bundestrainer ist nur ein paar Schnitte entfernt, ganz nah, und doch unendlich weit weg. Joachim Löw ist der Partygast, den niemand eingeladen haben will.

Wenn die große Party gefeiert wird, sind die Deutschen wieder nicht dabei.

„Nach einem solchen Spiel ist einfach Leere und Stille und große Enttäuschung“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Man plant so eine EM zwei Jahre lang, man denkt sich tausend Dinge aus, man kümmert sich um jedes Detail, und dann scheint in einem solchen Moment alles nutzlos. Wenn du den Titel nicht holst, dann fragst du dich, wofür das alles eigentlich?“

Video: Löw und die Verantwortung

Heute vor 50 Tagen hat für die Nationalspieler das Unternehmen EM begonnen. Es war der Auftakt einer langen Reise, die durch ganz Europa geführt hat: über Sardinien und Südfrankreich nach Danzig, Charkiw und Lemberg bis nach Warschau. Eigentlich sollte die Reise weitergehen nach Kiew, wo die Deutschen ihren ersten Titel seit 16 Jahren gewinnen wollten. Doch nicht Löws Mannschaft wird dort am Sonntag auf dem Platz stehen, sondern Spanien und Italien. „Man kann einen Titel nicht einfach immer nur herbeireden“, sagt Löw in der Nacht zum Freitag, als die Arbeit von fast 50 Tagen mal wieder für die Katz ist.

Video: Katerstimmung nach dem deutschen EM-Aus

Als die Nationalmannschaft tags zuvor ihr Quartier in Danzig verlassen hat, ist es noch einmal staatstragend geworden. Zur letzten Pressekonferenz ist der Oberbürgermeister der Stadt erschienen, der Deutsche Fußball-Bund wird von seinem Präsidenten Wolfgang Niersbach vertreten. Man tauscht warme Worte und Geschenke aus. Die Deutschen überlassen der Stadt Danzig den Fußballplatz, den sie neben ihrem Hotel für ihre Trainingseinheiten haben anlegen lassen; für Niersbach und Oliver Bierhoff gibt es eine gerahmte Grafik, und dann zieht der Oberbürgermeister von Danzig für jeden einen Plüschlöwen aus einer Papiertüte. Der Löwe sei nicht nur Teil des Danziger Wappens, sondern auch der König der Tiere und ein Symbol der Stärke.

Von 2006 - 2012: Deutschlands Scheitern bei großen Turnieren

Die Nationalmannschaft stand auch einmal für bedingungslose Stärke: Sie wurde in der ganzen Welt gefürchtet – weil sie die Spiele gewann, die man gewinnen musste. Die großen Spiele. Heute genießt die Nationalmannschaft in aller Welt Respekt, sie wird bewundert für ihren schönen Fußball, sogar ein bisschen geliebt. Aber sie verliert jetzt immer die Spiele, die man eigentlich gewinnen muss. Die großen Spiele. Das WM-Halbfinale 2006, das EM-Finale 2008, das WM-Halbfinale 2010 – und jetzt das EM-Halbfinale. Als es drauf ankam, waren die Italiener die besseren Deutschen, furchtlos und abgezockt.

Diese 1:2-Niederlage von Warschau trifft die Deutschen in ihrem Selbstverständnis mehr, als es die drei finalen Niederlagen zuvor getan haben – weil sie sich zum ersten Mal seit anderthalb Jahrzehnten wieder richtig stark gefühlt haben. „Jetzt ist die Zeit mal reif“, hat Wolfgang Niersbach zum Abschied aus Danzig gesagt. Aber das sei keine Forderung, schon gar kein Befehl, nicht mal eine Erwartung, fügt der DFB-Präsident hinzu. „Das ist ein Wunsch.“ Schließlich genüge eine einzige Unachtsamkeit, um dem Traum ein Ende zu bereiten.

Gegen Italien macht der Mann, der alles richtig macht, viel falsch

Anderthalb Stunden vor dem Anpfiff des Halbfinales gegen Italien wird die Ankunft der deutschen Mannschaft auf die Videowände unter dem Stadiondach übertragen. Joachim Löw steigt als einer der Ersten aus dem Bus. Der Bundestrainer hat ein Pfeifen auf den Lippen. Ein paar Minuten später steht er unten auf dem Feld. Löw streicht einmal, zweimal, dreimal mit der Handfläche über den Rasen, reibt sich die Hände, lässt die Schuhsohle über den Platz gleiten und verschwindet wieder im Kabinengang. Zwei Minuten nach dem Anpfiff fängt das Fernsehen Löw auf der Trainerbank ein. Er hält seine Hand vor den Mund und hat die Fingernägel in seine Unterlippe gekrallt.

Bildergalerie: Reaktionen nach dem Halbfinale gegen Italien

Das Turnier hat schon vor dem letzten Spiel einige Momente hinterlassen, die bleiben werden: die irischen Fans in Danzig, die trotzig gegen die Niederlage ihrer Mannschaft angesungen haben. Den Elfmeter von Andrea Pirlo im Viertelfinale gegen England. Und natürlich die Attacke von Joachim Löw auf den Balljungen in Charkiw. Wie er sich von hinten anschleicht; wie ihm vor Vorfreude ein Lächeln aufs Gesicht schleicht und wie er die aufkommende Wut des in seiner Ehre verletzten Jungen gleich mit einem Klaps auf die Schulter kontert. Unser Jogi, so locker, so lässig, so verspielt.

„Sie werden mich nicht so schnell nervös sehen“, hat der Bundestrainer vor dem ersten Spiel der EM gesagt. Er sei ein Wettkampftrainer, der den Wettstreit brauche, der dann auch keinen negativen Druck spüre. „Je näher das Turnier kommt, desto ruhiger werde ich. Die Gedanken werden klarer.“ Eine beruhigende Vorstellung. Doch jetzt, vom Ende her betrachtet, wird man den Eindruck nicht los, dass Löw eine Rolle gespielt hat. Er hat sie lange gut gespielt.

Nach dem Viertelfinale gegen Griechenland erreichten die Löw-Huldigungen ihren vorläufigen Höhepunkt. Da war er „Jogi Superstar“ und „Liebling Löw“. Gegen Italien aber wurde aus dem „Mann, der alles richtig macht“ („FAS“) ein Mann, der ziemlich viel falsch machte. Die Niederlage gegen Italien war vor allem Löws Niederlage. Eine Niederlage, die aus einer Mischung aus Übermut und Feigheit geboren wurde.

Bildergalerie: Die deutschen Spieler in der Einzelkritik

Gegen Griechenland hatte Löw noch den Mut zur bedingungslosen Offensive bewiesen. Er bot Spieler auf, die bis dahin kaum oder gar keine Rolle gespielt hatten – und sein Plan funktionierte. Vielleicht hat Löw danach tatsächlich geglaubt: Alles, was ich anpacke, gelingt. Gegen Italien veränderte er seine Mannschaft erneut auf drei Positionen. Er nahm Miroslav Klose, Marco Reus und André Schürrle wieder aus der Mannschaft und brachte dafür Mario Gomez und Lukas Podolski. Und zum ersten Mal Toni Kroos, der den Auftrag erhielt, die Kreise des italienischen Spielmachers Andrea Pirlo zu stören. In den Tagen vor dem Halbfinale hatte Löw immer wieder gesagt, er wolle sich nicht nach dem Gegner richten, er wolle Italien den Rhythmus aufzwingen. Genau das tat er nicht. Er überließ es den Italienern und ihrem Taktgeber Pirlo, den Rhythmus zu bestimmen.

Löw hat das deutsche Spiel positiv verändert, aber es fehlen die Titel

„Ich gehe gern Risiko ein“, hat Löw in den Tagen von Danzig einmal gesagt. Vielleicht ist das sein Selbstbild. Viele seiner Entscheidungen bei der EM zeugen hingegen von einer tief sitzenden Scheu vor Konflikten. Löw hat sich nicht getraut, seinen emotionalen Leader Bastian Schweinsteiger aus der Mannschaft zu nehmen, obwohl dem Münchner offenkundig die körperliche Fitness fehlte, um ein Leader zu sein. Er hat sich nicht getraut, Lukas Podolski gegen Italien auf der Bank zu lassen, sondern dem gebürtigen Polen in einer Art Gnadenakt einen Einsatz auf polnischem Boden gewährt. Und er hat sich nicht getraut, Miroslav Klose anstelle von Mario Gomez in der Mannschaft zu lassen. Gomez hat drei Tore erzielt, trotzdem passt der kantige Stürmer nicht in das geschmeidige Kombinationsspiel, das Löw von seiner Mannschaft sehen will. Zur Pause nahm der Bundestrainer Podolski und Gomez vom Feld. „Im Nachhinein ist es einfach zu sagen, man hätte dieses oder jenes anders machen können“, sagt Löw.

Bildergalerie: So erleben die Fans das EM-Halbfinale von Warschau

Auf dem Höhepunkt der Löw-Festspiele, zwei Tage vor dem Spiel gegen Italien, ist der Bundestrainer zu seiner neuen Popularität befragt worden und zu der Tatsache, dass ihn viele Menschen sexy fänden. Die Journalisten lachen. Auf Löws Miene ist keine Reaktion zu erkennen. Er überlegt einen Moment, bevor er antwortet. Dann sagt er: „Das Einzige, was ich anstrebe, ist Erfolg. Alles andere blende ich aus.“

Joachim Löw kann von allen Trainern der Nationalmannschaft den besten Punkteschnitt aufweisen, sein Team hat bis zum Halbfinale gegen Italien 15 Pflichtspiele hintereinander gewonnen – das ist Weltrekord; und in der Weltrangliste werden die Deutschen nächsten Monat auf Platz zwei vorrücken. Löw ist ein Erfolgstrainer – und trotzdem besitzt seine berufliche Vita einen entscheidenden Makel. Er hat mit der Nationalmannschaft noch keinen Titel gewonnen. „Wir haben viele Nationen, die vor uns lagen, in den vergangenen drei, vier Jahren eingeholt“, sagt Löw. Auch dieses Turnier werde von ihm insgesamt positiv bewertet, vier Siegen stehe nur eine Niederlage gegenüber. „Es wird andere Möglichkeiten geben“, sagt der Bundestrainer. „Alle werden die Motivation wieder finden, sich neue Ziele zu setzen.“

Eine Stunde nach dem Abpfiff verlassen die Deutschen den Ort ihrer Niederlage. Sami Khedira, Thomas Müller und Mesut Özil gehen wortlos an den Journalisten vorbei. Per Mertesacker, der bei der EM nicht eine Sekunde gespielt hat, sagt „Tschüss“, und Holger Badstuber muss selbst jetzt noch gegen die Tränen ankämpfen. „Wir wollten hier nicht nur ins Finale“, sagt er, „wir wollten den Titel gewinnen.“

Stefan Hermanns

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