Fußball-Nationalmannschaft: Joachim Löw reaktiviert das Glück
Der 3:2-Erfolg gegen Holland hilft der deutschen Nationalmannschaft in ihrem Prozess des Umbruchs. Vor allem aber hilft er Bundestrainer Joachim Löw.
Der Abend in der Johan-Cruyff-Arena war ein eindeutiger Rückfall in alte Zeiten. Das Stadion hatte sich schon weitgehend geleert, nur in einer der oberen Ecken herrschte noch Betrieb. Von dort kam auch ein Lied, das alles andere als taufrisch ist. „Ohne Holland fahr’n wir zur EM“, sangen die Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, so wie sie es, mit leichten Variationen, seit inzwischen fast 20 Jahren bei jeder sich bietenden Gelegenheit tun. Durch Originalität hat sich der Anhang der deutschen Nationalmannschaft selten hervorgetan.
Was zuvor in der Arena passiert war, dürften auch die Holländer wenig originell gefunden haben. Es kam ihnen, im Gegenteil, seltsam vertraut vor. „Doch wieder die Deutschen“, stöhnte die Zeitung „Volkskrant“ am Morgen nach der 2:3-Niederlage ihrer Elftal. Doch wieder ein Sieg durch ein Tor in letzter Minute. Typisch deutsch also. Oder eben auch nicht. Typisch deutsch schien es zuletzt eher zu sein, mehr oder weniger klare Vorsprünge noch zu verspielen. In Frankreich verlor die Nationalmannschaft im Oktober 1:2 nach 1:0-Führung, und beim jüngsten Zusammentreffen mit den Niederländern lag sie fünf Minuten vor dem Ende sogar mit 2:0 in Front – am Ende hieß es 2:2.
Erinnerungen an letztes Duell drängten sich auf
Die Erinnerungen an dieses Spiel vor vier Monaten drängten sich am Sonntag geradezu auf: Auch in Amsterdam führten die Deutschen durch Tore von Leroy Sané und Serge Gnabry zur Pause 2:0. Wieder waren sie die bessere Mannschaft und nicht etwa die hoch gelobten Holländer mit ihren hoffnungsvollen Talenten. „Die kann man fußballerisch kaum besser spielen“, sagte Toni Kroos über die erste Halbzeit. Doch als in der zweiten Hälfte etwas mehr als eine Viertelstunde vorüber war, hatten die Holländer bereits den Ausgleich geschafft. „Nach dem 2:2 war es echt schwierig“, sagte Torhüter Manuel Neuer, „aber wir haben den Mut nicht verloren.“
Dass das Spiel – nach den frustrierenden Erfahrungen der vergangenen Monate – nicht noch krachend verloren ging, ist kaum hoch genug einzuschätzen. „Es ist viel vom Neubeginn die Rede gewesen. Deswegen brauchten wir ein Erfolgserlebnis“, sagte Neuer. „Das haben wir zum Glück geschafft.“ Mittelfeldspieler Joshua Kimmich gab hinterher zu, dass sich das glückliche Ende nicht unbedingt angedeutet hatte. Aber nach dem Ausgleich der Holländer durch Memphis Depay schafften die Deutschen es zumindest, ihr arg wackeliges Gebilde wieder zu stabilisieren. „Das Positive war: Man hatte das Gefühl, dass wir das Spiel noch mit einer guten Aktion entscheiden können“, sagte Bundestrainer Joachim Löw. „Wir hatten einfach den Glauben an den Sieg nicht verloren.“
Der Erfolg war auch für ihn eine Bestätigung: Gut neun Monate nach dem WM-Desaster hat sich Löw nun doch noch für einen konsequenten Neuaufbau entschieden. Und auch wenn er ein bisschen Geduld angemahnt und Rückschläge einkalkuliert hat, weiß er natürlich, wie schnell das Publikum ungeduldig werden und die öffentliche Stimmung kippen kann. „Der Sieg ist natürlich hilfreich“, sagte Löw, „hilfreich für das Selbstbewusstsein der Mannschaft, hilfreich für die Moral.“ Hilfreich aber vor allem für sein eigenes Standing.
Der Bundestrainer arbeitet nach der frustrierenden Weltmeisterschaft noch immer auf Bewährung. Er muss noch eine Menge Vorbehalte ausräumen. Das Spiel in Amsterdam war zumindest ein Indiz, dass sein Plan mittel- bis langfristig aufgeht. „Am Ende bin ich schon auch innerlich ein bisschen zufrieden“, sagte Löw. Die Mannschaft setzte das um, was er von ihr hatte sehen wollen: Sie spielte mutig, sie spielte mit Tempo, und bewies endlich einmal auch die nötige Konsequenz. Als sie nach der Pause unter der Wucht der Holländer zu zerbröseln drohte, war es der Bundestrainer, der ihr neuen Halt verschaffte.
Löw ist oft vorgeworfen worden, dass er nicht besonders geschickt darin sei, auf Ereignisse im Laufe eines Spiels zu reagieren. In Amsterdam traf er zwei Entscheidungen, die nachhaltigen Einfluss hatten. Mit Ilkay Gündogan, der Leon Goretzka ersetzte, kehrte die Stabilität ins deutsche Spiel zurück, und der spät eingewechselte Marco Reus war entscheidend am Siegtreffer beteiligt. Er passte den Ball auf den Torschützen Nico Schulz – nachdem er zuvor von Gündogan perfekt freigespielt worden war. Löw sprach später vom Spielglück, das seiner Mannschaft zuletzt gefehlt habe. An diesem Abend war das Spielglück auch zu ihm zurückgekehrt.
Schwankungen wird es auch in Zukunft geben
„Der Sieg ist extrem wichtig für die Stimmung und das Selbstvertrauen“, sagte Joshua Kimmich. Er ist auch wichtig für das eigene Selbstverständnis. Das Spiel in Amsterdam hat gezeigt, dass die Richtung grundsätzlich die richtige ist. Dass es immer noch genügend Talente gibt und die Zukunft der Nationalmannschaft vielleicht doch nicht so düster sein muss, wie sie zuletzt gemalt wurde. Vor allem in der Offensive verfügt Löw mit Gnabry und Sané, die vor der WM noch keine Rolle gespielt haben, über außergewöhnliche Qualität. „Wir haben richtig gute junge Spieler, die enormen Speed und großen Willen haben“, sagte Marco Reus. „Aber wir haben auch gezeigt bekommen, was wir noch vor uns haben.“
Schwankungen, wie sie in Amsterdam innerhalb des Spiels zu sehen waren, wird es auch in Zukunft geben. Aber der Bundestrainer kann darauf bauen, dass seine Spieler nicht nur lernwillig, sondern auch lernfähig sind. Manchmal sind die Fortschritte sogar innerhalb eines einzigen Spiels zu besichtigen. Vor seinem Tor zum 2:0 sah sich Serge Gnabry dem Duell mit Hollands kantigem Innenverteidiger Virgil van Dijk ausgesetzt. Beide waren sich zuvor schon einmal in dieser Konstellation begegnet. Gnabry versuchte auf der Außenseite an ihm vorbeizukommen, „da hat er mich abgekocht“. Also zog er diesmal nach innen, hielt van Dijk erfolgreich auf Abstand und traf mit einem formschönen Schlenzer genau in den Winkel.