EM-Qualifikation gegen Estland: Joachim Löw nominiert aus Prinzip anders
Auf der Suche nach einem festen Stamm läuft Joachim Löw langsam die Zeit davon - nicht zuletzt, weil der Bundestrainer seltsame Personalentscheidungen trifft.
Das erste Mal ist Niklas Stark in diesem März mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Berührung gekommen. Joachim Löw hatte den damals noch 23-jährigen Innenverteidiger von Hertha BSC für die Länderspiele gegen Serbien und in den Niederlanden nominiert. Zum Einsatz kam er nicht. Seitdem aber wurde Stark von Löw zu jedem der weiteren zwei Doppelspieltage der Auswahl im Juni und im September berufen – und immer spielten andere. Kein einziger der 105 Debütanten in der Löw-Ära seit 2006 hat nach seiner Nominierung solange auf einen Einsatz warten müssen wie Stark.
Zu den beiden Länderspielen jetzt im Oktober sollte es endlich soweit sein. Für das Spiel am Mittwoch gegen Argentinien – es waren so viele Spieler ausgefallen wie noch nie – hatte Löw dem Berliner sogar eine Startelfgarantie gegeben. Doch Starks Gesundheit spielte nicht mit: ein Magen-Darm-Infekt legte ihn flach. Also dann an diesem Sonntag, wenn die deutsche Mannschaft in Tallinn in der EM-Qualifikation gegen Estland spielt (20.45 Uhr/live bei RTL). Doch auch dazu wird es nicht kommen.
In der Nacht zum Freitag soll sich Stark auf dem Weg zur Toilette an einer Tischkante gestoßen und sich eine blutende Wunde am Schienbein zugezogen haben, die genäht werden musste. Noch am Freitag verließ er das Mannschaftquartier und trat die Heimreise an. Unabhängig davon, wie der Unfall sich nun genau zugetragen hat – eine solche Geschichte kann man sich nicht ausdenken. Die Beziehung zwischen Stark und der Nationalelf ist zumindest eine sehr spezielle. Starks Geschichte passt sogar ein bisschen ins Gesamtbild, das die erste Mannschaft im Lande derzeit abgibt.
Die aus der Not zusammengewürfelte Nationalelf verblüffte gerade gegen Argentinien und führte im Dortmunder Regen 2:0. Doch als die Fernsehkameras die Reservebank einblendeten, sah der geneigte Zuschauer das Problem: Kein einziger Verteidiger saß mehr auf der Ersatzbank. Ein bisschen hatte sich das bereits in den Tagen zuvor angedeutet. Abwehrspieler wie Antonio Rüdiger, Nico Schulz und Thilo Kehrer sind schon länger verletzt, dann meldeten sich kurzfristig noch Matthias Ginter und Jonathan Tah ab.
Auch in anderen Mannschaftsteilen fielen Leistungsträger wie Toni Kroos aus, weshalb nicht wenige nach dem früheren Abwehrchef und in diesem März vom Bundestrainer ausgemusterten Mats Hummels riefen. „An den habe ich jetzt nicht gedacht“, lautete Joachim Löws knappe wie lapidare Antwort auf die entsprechende Frage. Man darf dies dem 59-Jährigen als Konsequenz auslegen. Eine, die der Bundestrainer im verkorksten WM-Sommer 2018 und selbst danach lange hat vermissen lassen.
Was ist aus dem Leistungsprinzip geworden?
Lieber nominierte Löw den 23 Jahre alten Neuling Robin Koch vom SC Freiburg nach. Tatsächlich fand sich Koch in der Startelf gegen den zweimaligen Weltmeister wieder. Er machte ein wackeres Spiel, auch wenn ihm in der Schlussphase des Spiels der Überblick verlorenging. Neben Koch waren an diesem Abend auch Luca Waldschmidt, Nadiem Amiri und Suat Serdar zu ihren ersten Einsätzen in der Nationalelf gekommen.
Nein, es waren nicht so sehr die vier Neulinge, eine ganz andere Personalie überraschte, was bei all den vielen Absagen und Nachnominierungen fast ein bisschen unterging. Die Löw'sche Antwort auf die vielen Ausfälle im defensiven Bereich und den Rufen nach Hummels lautete: Sebastian Rudy.
Der ist nur geringfügig jünger als Hummels, sucht dafür aber seit mehr als einem Jahr nach seiner Form. Im Sommer 2017 ist Rudy aus Hoffenheim zum FC Bayern gewechselt, den er zwölf Monate später fluchtartig Richtung Schalke verließ. Dort kam der defensive Mittelfeldspieler allerdings ebenfalls nicht auf die Strümpfe. Inzwischen ist Rudy auf Leihbasis zur TSG zurückgekehrt. Keine Frage, mit der Nachnominierung Rudys ist dem Bundestrainer eine echte Überraschung gelungen. Oder anders ausgedrückt: Das Leistungsprinzip kann für den neutralen Beobachter nicht den Ausschlag gegeben haben.
Immer wieder verspielt das Team Führungen
Den späten wie ärgerlichen 2:2-Ausgleich gegen Argentinien konnte der eingewechselte Rudy auch nicht verhindern. Löw freute sich hinterher zwar, mit „welchen Mut, mit welchen Herz“ seine ersatzgeschwächte Mannschaft eine Stunde lang gespielt hatte. Trotzdem ist ein Trend erkennbar, der für die Europameisterschaft im kommenden Sommer nachdenklich stimmt: Zum wiederholten Male hat Löws Mannschaft eine Führung nicht über die Zeit bringen können.
Gegen Argentinien setzte sich fort, was bereits vor zwölf Monaten in Paris beim 1:2 gegen Frankreich nach einer 1:0-Pausenführung und später gegen alle namhaften Gegner passierte. Gegen die Niederlande wurde beim 2:2 im November 2018 ein 2:0 zur Pause verspielt. Beim 2:4 im September war es gegen den gleichen Gegner eine 1:0-Pausenführung. Und selbst beim 3:2-Sieg im Hinspiel gegen die Holländer im März stand es nach einem 2:0 zwischenzeitlich 2:2.
„In der Summe, wenn man die ganzen Umstände betrachtet, war es nicht schlecht“, sagte Ersatzkapitän Joshua Kimmich nach dem Spiel gegen Argentinien. „Allerdings kriegen wir hinten raus die Tore. Das ist uns leider jetzt schon öfter passiert.“ Für die vielen Ausfälle und Absagen kann der Bundestrainer nun wirklich nichts. Verständlich ist auch seine Sorge, dass es nicht mehr so viele Möglichkeiten gibt, eine feste Kernmannschaft von 14, 15 Spielern zu formen, die sich auf das kommende Sommerturnier einspielen kann. Letztlich wird auch das Spiel in Estland nicht besonders aussagekräftig sein können.
„Ganz optimal ist es in den letzten Monaten nicht gelaufen“, hatte Löw bereits vor dem Argentinienspiel geklagt. Nicht thematisieren wollte der Bundestrainer, welchen Anteil er daran hat. Bekanntlich hatte Löw nach dem WM-Desaster die angekündigte Verjüngung monatelang verschleppt und erst im März dieses Jahres einen radikalen Umbau eingeleitet mit der Aussortierung von Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller. So bleibt für Pechvogel Niklas Stark eine Restchance, doch noch ein richtiger Nationalspieler zu werden. Die nächsten beiden Länderspiele stehen im November an und Löw hat am Samstag schon einmal erklärt, den Herthaner „logischerweise“ wieder einladen zu wollen.