Kolumne „Losgelaufen“: Beim Marathon ist der Darm ganz frei von Charme
Wie machen es Läufer eigentlich mit dem Toilettengang – und warum erleichtern sich jedes Jahr vorm Marathon so viele im Tiergarten? Unser Kolumnist klärt auf.
Noch drei Tage, dann ist es wieder soweit. Der Regierende Bürgermeister wird die Pistole zücken, tausende Ballons werden in den Berliner Himmel steigen und 45.000 Läuferinnen und Läufer aus der ganzen Welt auf die 42,195 lange Strecke gehen. Berlin-Marathon!
Längst ist aus dem kleinen Lauf mit 244 Finishern im Grunewald ein Megaevent mitten in der Stadt geworden. Für ein paar Stunden gehören die Straßen rund um Siegessäule, Ku’damm und Brandenburger Tor Menschen in Laufschuhen. Eine Million Zuschauer an der Strecke, in zahlreiche Länder wird das Rennen live übertragen. Spektakuläre Bilder garantiert.
Szenen, die der Weltöffentlichkeit dagegen erspart bleiben, spielen sich jedes Jahr kurz vor dem Start ab. Verzweifelt drängeln sich Starter um die blauen Klohäuschen. Von denen gibt es zwar hunderte, doch in den Minuten vor dem Startschuss halten sie dem Ansturm nicht stand. Meterlang staut es sich vor jedem Dixi, während die Zeit tickt. Panik macht sich breit. Mit jeder Minute verlassen mehr Wartende die Schlange und schließen sich den Grüppchen an, die sich ins Unterholz schlagen.
Es ist eine Thematik, die sorgsam verschwiegen wird, doch es sind Bilder, die sich auf der Netzhaut einbrennen. Weiße Läufer-Pos hinter jedem Busch, Frauen wie Männer, Alte und Junge, vom Student bis zum Manager. Alle gehen sie in die Hocke und kacken in den Tiergarten. Wer keine Taschentücher zum Abwischen hat, nutzt Laub. Ungeniert, animalisch. Darm mit Charme? Von wegen.
Doch woher kommt das regelmäßig plötzliche Bedürfnis kurz vor dem Wettkampf? Anruf bei Carsten Büning, Professor, Chefarzt und Gastroenterologe im Krankenhaus Waldfriede in Zehlendorf. Dort hat man sich auf die Behandlung von Darmerkrankungen spezialisiert. „Ein Allheilmittel gibt es nicht“, sagt der 46-Jährige. Er unterscheidet zwischen dem Stressdurchfall vor dem Wettkampf und Magen-Darm-Beschwerden, die während des Rennes auftauchen.
Shit happens
„Verantwortlich ist die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.“ Wird diese aktiviert, produziert sie Hormone wie Cortisol. Das wiederum hat einen Effekt auf den Magen-Darm-Trakt und die Darmbeweglichkeit. „Das geht häufig sehr, sehr schnell“, sagt Büning. So richtig schützen könne man sich dagegen nicht, selbst Profisportler seien davon betroffen.
Auch aus anderen Sportarten kenne man den Stressdurchfall, doch öffentlich wird darüber fast nie gesprochen. Als Fußball-Weltmeister Per Mertesacker kurz nach seinem Karriereende über Druck und panischen Klo-Gänge vor Spielen berichtete, warfen ihm nicht wenige Verweichlichung vor.
Für Mediziner Büning dagegen ein normaler Vorgang. „Das, was wir da ausscheiden, sitzt bereits im Enddarm.“ Nach dem Klo- oder Buschgang lasse der Reiz dann nach. Anders beim Durchfall während des Laufes. Dabei komme es zu einer Umverteilung der Blutversorgung im Körper. Der Magen-Darm-Trakt, der für die Anstrengung wenig benötigt werde, erhalte nur noch wenig Blut. Die mögliche Folge: Krämpfe, Erbrechen, Durchfall. Bünings Tipp: In den Tagen vor dem Marathon viel trinken, auf Milchprodukte und Fette verzichten und stattdessen zur Schonkost zu greifen.
Auch der Mediziner nimmt immer wieder an Laufveranstaltungen teil, vor einigen Jahren beim traditionsreichen „25 Kilometer de Berlin“. Er hat ebenfalls Erfahrungen mit der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse gemacht. „Selbst als Darmspezialist ist man vor Stressdurchfall nicht gefeit.“ Für die vielen Geschäftstüchtigen im Tiergarten vielleicht ein Trost. Sie sind nicht allein. Oder wie Laufexperte Forrest Gump sagte: Shit happens!
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