Nach dem 2:1 gegen England: Islands rosa-roter Blick auf das Viertelfinale
Island steht Kopf, nur das Team bleibt cool. Nach dem Triumph gegen England soll nun Gastgeber Frankreich ausgeschaltet werden.
Kurz vor zwei an der Promenade des Anglais, Nizzas mondäner Strandmeile, gleich vor dem Negresco, dem elegantesten der endlos eleganten Hotels hier. Ein junger Mann kommt vorbei geradelt. Er trägt ein blau-weiß-rotes Leibchen, schwenkt eine Bierdose und fährt abenteuerliche Linien. Ganz nüchtern ist er nicht mehr, wer mag ihm das verdenken in dieser Nacht. Es reicht noch zu einem Schwenk hinüber zu drei Engländern, auch sie halten Bierdosen in den Händen, aber keiner mag sie triumphierend schwenken. Der Isländer singt „Iceland’s on fire, nananananana!“, ein musikalischer Verweis auf den Nordiren Will Grigg und das Comeback guter Laune bei der Europameisterschaft, dann verschwindet er in der Nacht. Die Engländer starren runter auf ihre Dosen.
Island - die Wucht des Atlantiks
Island will nicht schlafen gehen. Nicht zu Hause in Reykjavik, wo die Straßen der Innenstadt gesperrt werden, weil sie überquellen vor jüngeren und älteren Frauen und Männern mit Wikinger-Helmen und blauen Fahnen mit rot-weißem Kreuz. Und erst recht nicht in Nizza. An der Côte d’Azur duftet es nach Zypressen und Zitronen, nach Mittelmeer, umtost von der isländischen Wucht des Atlantiks. Niemanden schert es, dass Bier in Nizza so teuer ist wie anderswo Champagner. Iceland’s on fire! Steht im Hotel noch eine kleine Party an nach dem zugleich sensationellen und nie ernsthaft gefährdeten 2:1-Sieg im Achtelfinale über England? Ragnar Sigurdsson windet sich so souverän um eine konkrete Antwort, wie er zuvor als Innenverteidiger den englischen Angriffen getrotzt hat. „Wir reden in der Öffentlichkeit nicht über Alkohol.“
Siegtor durch Sigthorsson
Die Pointe der Nacht von Nizza schreibt ein blonder Stürmer, der sein Geld beim französischen Erstligisten FC Nantes verdient. Einen Siegtorschützen Sigthorsson hätte sich wahrscheinlich nicht mal René Goscinny für den leider ungeschriebenen Comic „Asterix bei den Isländern“ ausgedacht. „Siegtor durch Sigthorsson“, läuft bei Twitter rauf und runter, was die Isländer ein bisschen irritiert, denn der deutsche Kontext erschließt sich im nordischen Zweig der indogermanischen Sprachfamilie nur über Google-Translator.
Island hat 330.000 Einwohner, nicht ganz so viele wie Berlin-Neukölln, und gefühlt alle wollen sie jetzt zum Viertelfinale am Sonntag in Saint-Denis gegen Frankreich reisen. „Ich kann mir gut vorstellen, dass unser Land Kopf steht“, erzählt der Mannschaftskapitän Aron Gunnarsson, ein Hüne mit Vollbart und großflächigen Tätowierungen, dem nur noch ein Helm mit zwei Hörnern zur Karikatur eines Wikingers fehlt.
Aron Gunnarsson steht für die schnörkellose Stringenz, mit der der EM-Debütant das ancien régime besiegt hat. England ist früh in Führung gegangen durch einen Elfmeter von Wayne Rooney, Island scheint geschlagen, denn ist seine Strategie nicht darauf ausgerichtet, möglichst lange ein 0:0 zu halten? Dann aber kommt Gunnarsson, sein Einwurf in den Strafraum ist wuchtiger als alle englischen Flanken, und dann liegt der Ball auch schon im Tor. Island jubelt, England verfällt in Agonie. Dasselbe hatten sie so schon vor ein paar Tagen gegen Österreich exerziert, was den Engländern offenbar verborgen geblieben war. „Keine Überraschung, Einwürfe sind unsere Waffe“, sagt der Torschütze Ragnar Sigurdsson.
Gegen Frankreich heißt es: cool bleiben
Das ist keine aus Effekthascherei gespielte Lakonie. Die Isländer treten in Frankreich so cool auf, wie es das Klischee des Nordländers verlangt. In diesem Sinne bilanziert Ragnar Sigurdsson das Spiel. Ja, er habe schon als kleiner Junge von diesem Spiel geträumt, aber das angebetete Ideal bleibt in Nizza alles schuldig, was den englischen Fußball einmal ausgemacht hat. Leidenschaft, Kampf, Siegeswille. „Sie hatten so gut wie keine Torchance“, sagt Sigurdsson, „nur diesen einen Kopfball von Harry Kane“, aber der landet in den Armen von Hannes Halldorsson. „Ihr wisst ja, dass es nicht ganz einfach ist, ein Tor gegen Island zu schießen. Also, ich kann nicht sagen, dass wir besonders gestresst waren“, sagt Sigurdsson. Mal abgesehen von der Nachspielzeit, als der Triumph immer näher rückt und damit auch die Angst vor einem späten Querschläger.
Es gibt keinen Querschläger, denn auch den muss man sich erst einmal verdienen, und England verdient sich nichts in Nizza. Ragnar Sigurdsson konstatiert eine gewisse Larmoyanz der einstigen Idole – „die dachten wohl, das wäre für sie ein walk in the park“, er wählt mitten im isländischen Vortrag ganz bewusst eine englische Phrase. Auch Heimir Hallgrimsson wundert sich ein wenig über den phlegmatischen Gegner, legt aber Wert auf die Feststellung, „dass wir unser bisher bestes Spiel gemacht haben, die Mannschaft hat als Einheit perfekt funktioniert und jeder seinen Job erledigt“.
"Island hat noch nicht seinen besten Fußball gezeigt"
Heimir Hallgrimsson verantwortet als Trainer gemeinsam mit dem Schweden Lars Lagerbäck das Fußball-Wunder aus dem hohen Norden. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat er sein Geld als Zahnarzt verdient. Jetzt steht er vor der psychologisch schwierigen Aufgabe, seine Mannschaft aus dem Rausch des Kindheitstraums herunterzuholen in die Realität, die da heißt: Frankreich. Viertelfinale im Stade de France. Keine Sorge, sagt Ragnar Sigurdsson, „das war ein gutes Spiel heute, aber gegen Frankreich wollen wir es besser machen und ein bisschen dominanter spielen“. Mehr Dominanz vor 80.000 Franzosen? Sigurdsson nickt. „Frankreich hat eine gute Mannschaft, aber sie hat bei der Europameisterschaft noch nicht ihren besten Fußball gezeigt.“ Kurze Pause. „Island aber auch noch nicht!“
Sven Goldmann