Werder Bremen: Im Sinkflug
Eben war der SV Werder Bremen noch Deutscher Meister. Jetzt steckt der Verein mitten im Abstiegskampf. Wie konnte das geschehen? Gedanken eines Fans über die 14-jährige Ära von Trainer Thomas Schaaf.
Derzeit gibt es täglich schlechte Nachrichten aus Bremen. Doch diese hier ging beinah unter, also noch mal zum stillen Gedenken: Der OLT ist pleite. Die gute, alte Fluggesellschaft, sie wird nie wieder abheben.
Der „Ostfriesische Lufttransport“ war 1958 gegründet worden, um die Nordseeinseln mit dem Festland zu verbinden. Und in späteren Jahren diente er dazu, den SV Werder mit der großen, weiten Fußballwelt zu verbinden. Dass beim OLT jetzt, im Jahr der größten Krise in der jüngeren Geschichte Werders, die Lichter ausgehen – das mag ein Zufall sein. Aber wer von uns, der den an Omen und Metaphern so reichen Fußball liebt, will schon an Zufälle glauben?
Am 8. Mai 2004, auf der Rollbahn des Bremer Flughafens, lugte Thomas Schaaf aus dem Cockpit einer OLT-Maschine, Fabrikat Saab 2000. In der einen Hand hielt er eine Vereinsfahne, in der anderen eine Videokamera. Der Coach wollte dokumentieren, was er sah, einen Moment für die Ewigkeit: 15 000 Fans hatten bis zum späten Abend ausgeharrt, um ihre Mannschaft nach einem furiosen 3:1-Sieg beim FC Bayern München zu empfangen. Andreas Reinke, Paul Stalteri, Valerien Ismael, Mladen Krstajic, Christian Schulz, Tim Borowski, Frank Baumann, Fabian Ernst, Johan Micoud, Ailton, Ivan Klasnic – die neuen Deutschen Meister.
Die laue Mainacht am Bremer Flughafen geriet zu einer Siegesfeier irgendwo zwischen Himmel und Erde: Balljungen verteilten rote Rosen an die Spieler, auf zwei eilig zu einem Triumphbogen zusammengeschobenen Gangways weinte Ailton Tränen der Rührung auf die Menge hinab und rief: „Schampan, Wasser, Bier brasilian! Musse heute alles alle!“ Bürgermeister Henning Scherf wurde mit grün-weiß geschminkten Wangen gesichtet. Dass er mit Manager Klaus Allofs am Gepäckband Lambada tanzte, ist allerdings ein Gerücht.
Neun Jahre sind seit der Orgie auf dem Rollfeld vergangen. Vieles hat sich verändert, ist verschwommen, sogar verschwunden. Ganz so, als wäre es nie dagewesen: Deutsche Meister lassen sich nicht mehr von ostfriesischen Postfliegern transportieren, Deutsche Meister heißen nicht mehr Paul Stalteri, Deutsche Meister kommen nicht mehr aus Bremen. Am Tag, bevor der OLT im Januar seine Pleite bekannt gab, verlor der SV Werder das Nordderby beim Hamburger SV mit 2:3, Clemens Fritz und Marko Arnautovic flogen vom Platz, und Thomas Schaaf sagte müde: „Rote Karten bringen uns nicht weiter.“ In der Folge konnte sein Team nur noch zwei Mal gewinnen, inzwischen ist es seit elf Spielen sieglos und steht auf Tabellenplatz 14. Akute Abstiegsgefahr. Wie hätte es beim „Ostfriesischen Lufttransport“ geheißen? Meine Damen und Herren, wir sind soeben auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Bitte bleiben Sie angeschnallt sitzen.
Momente, in denen sich Schaafs Münze in der Luft drehte und dann auf der falschen Seite landete
Was ist schief gelaufen beim SV Werder? Nichts derart Evidentes, dass man dafür einen Trainer rausschmeißen könnte. Schon gar keinen wie Schaaf, der seit 41 Jahren dem Verein angehört, ja, mit diesem beinah deckungsgleich ist. Es gab vielmehr einige Momente seit 2004, in denen sich Schaafs Münze in der Luft drehte und dann auf der Seite landete, auf die er nicht gesetzt hatte. Was nicht heißen soll, dass er ein Zocker wäre. Was bleibt einem Trainer, dessen Verein große Standortnachteile gegenüber der Konkurrenz hat, weil sein Umfeld jenseits der engen Stadtgrenzen aus nichts als Mooren, Feldern und Osterholz-Scharmbeck besteht, schon anderes übrig, als auf das Glück des Tüchtigen zu hoffen? Aber er hatte Pech, und das in immer kürzerer Folge. Im Fußball gilt nun mal: Je mehr Pech man hat, desto mehr Pech hat man.
Am 7. März 2006 etwa, im Achtelfinale der Champions League, als sich Torwart Tim Wiese in der 88. Minute beim Stand von 1:1 gegen Juventus Turin (Hinspiel 3:2) zu einem Purzelbaum hinreißen und den Ball vor Emersons Füße fallen ließ. Der schob mitleidslos ein, die Bremer waren raus, ein Batzen Geld und noch mehr Ruhm einfach verpufft. Oder in der Hinrunde 2007, als die Bremer für den Brasilianer Carlos Alberto so viel Geld ausgaben wie nie zuvor, im festen Glauben, dass sie ihn schon integrieren würden wie so viele heikle Profis zuvor, Ailton etwa, Johan Micoud, Diego oder Mesut Özil. Doch diesmal gelang es nicht. Wie oft mag Schaafs Co-Trainer Wolfgang Rolff wohl des Nachts zur Villa des Feierwütigen gerast sein und persönlich den Stecker der Stereoanlage aus der Wand gerissen haben? Und als hätte sich damals ein Fluch über den Verein gelegt, verlängerte sich die Liste der missratenen Transfers wie ein Einkaufsbon, der aus der Supermarktkasse rattert: Marcelo Moreno, Marco Marin, Mikael Silvestre, Wesley, Denni Avdic, Francois Affolter, Sandro Wagner – ein Who’s Who des „Wer war das noch mal?“
Trotzdem wagten die Bremer es im vergangenen Sommer noch einmal, mit einem Ensemble aus schwierigen Charakteren ins Rennen zu gehen: Um Arnautovic, Eljero Elia und Kevin de Bruyne sollte eine neue Mannschaft entstehen. Das vermeintliche Potenzial dieser Spieler weckte große Erwartungen bei den Fans, wenn auch nicht auf Titel, so doch wenigstens auf das eine oder andere 5:4, wie am 27. September 2008 gegen Hoffenheim – den grenzgängerischen Irrsinn also, den sich die Norddeutschen so gern ansehen, weil sie ihn selbst nicht in sich tragen.
Die Erfolgserlebnisse, die das sensible Gefüge brauchte, blieben aus.
Doch die Erfolgserlebnisse, die ein solch sensibles Gefüge braucht, um zusammenzuwachsen, sie blieben aus. Und dann landete Schaafs Münze noch einmal auf der falschen Seite, am 12. November 2012, dem Tag, als Klaus Allofs als erster Manager überhaupt während einer laufenden Saison den Verein wechselte. Er ging zum VfL Wolfsburg. Das war nicht illegal, aber ein durchaus fatales Signal an die Spieler: Wenn er schon dorthin geht, wo das Geld ist, warum sollten sie dann bleiben? Hoffnungsträger Kevin de Bruyne, vom FC Chelsea ausgeliehen, verschwendete danach jedenfalls keinen Gedanken mehr an eine Zukunft in Bremen. Und es blieb an Thomas Schaaf hängen, mit Spielern weiterzumachen, die mit einem Bein schon in anderen Kadern stehen. „Allofs ist nicht mehr da“, sagte er unlängst in seiner unnachahmlichen Lakonie. „Und wenn jemand nicht mehr da ist, ist er aus der Verantwortung raus.“
Er hingegen ist in der Verantwortung drin. Sicher, er hat es versäumt, nach den Abgängen von Torsten Frings und Claudio Pizarro eine neue Riege hartgesottener Führungsspieler zu etablieren. Jungs wie Philipp Bargfrede oder Nils Petersen sind nicht nur momentan Tabellenvierzehnter, man sieht ihnen bereits auf dem Mannschaftsfoto im Kicker-Sonderheft an, dass sie kaum mehr zu wollen imstande sind, als eben Tabellenvierzehnter zu werden. Schaaf hat wohl auch das Maß der Beklopptheit unterschätzt, dem Marko Arnautovic unterliegt. Der ließ sich erst vor dem wichtigen Spiel in Leverkusen nachts um drei auf der Autobahn blitzen, dann erschien er zum Rapport wie zum Recall bei DSDS. Den Unterschied scheint er nicht zu kennen.
Das ist der eigentliche Jammer: Dass Typen wie Arnautovic die sportliche Krise durch ihr Gehabe aussehen lassen wie die Dekadenz eines ganzen Vereins. Dabei ist Krise allein nicht der Ausnahmezustand, sondern vielmehr die erfolgreichen Jahre zuvor. Die Jahre also, in denen es Schaaf und Allofs wie von Zauberhand gelang, die Linie von Ausnahmekönnern scheinbar ins Unendliche zu verlängern. Oben mitzuspielen. Gegen die Bayern zu gewinnen. Meister zu werden.
Der Coach mag bereits 2004 gewusst haben, als er aus der OLT-Masche heraus seine Videokamera auf die Menge richtete: Das gibt’s nur einmal, das kommt nie wieder. Es ist sein Verdienst als Trainer, dass er in den Jahren danach die Hoffnung aufrecht erhielt, dass es doch noch mal kommen würde. Und nicht seine Schuld, dass es trotzdem bei diesem einen Mal blieb.
Wenn er den Abstieg verhindert, vielleicht schon am Samstag gegen Eintracht Frankfurt, die Fans sollten ihm noch einmal ein solch rauschhaftes Fest bescheren wie im Mai 2004. Und ihn dann, nach 14 aufzehrenden Jahren im Amt, endlich mal in den Urlaub fliegen lassen. In einer guten alten OLT-Maschine.
Dirk Gieselmann