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Auf zu neuen Hochgeschwindigkeiten. Julian Reus (Mitte) bei seinem Sieg im 100-Meter-Lauf bei den Deutschen Meisterschaften in Ulm.
© dpa

Deutsche Sprinter hoffen auf EM-Medaille: Im Rausch der Geschwindigkeit

Die Deutschen haben schneller laufen gelernt. Und jetzt mischen sie kommende Woche bei der EM in Zürich sogar beim größten Spektakel mit, das die Leichtathletik zu bieten hat: dem 100-Meter-Lauf. Doch wie ist das möglich?

Im Startblock, wenn die schnellsten Athleten niederknien, bestimmen auf einmal sensible Gefühle über prall trainierte Muskeln. „Am Startblock entscheiden sich viele Rennen“, sagt der Berliner Sprinter Lucas Jakubczyk vom SC Charlottenburg. Jetzt würden Gesten und Mimik wichtig, sagt Jakubczyk. Der drohende Bremsklotz ist das Nervenflattern, die 100 Meter bis zum Ziel werden so zur Glaubensfrage, und gerade die deutschen Sprinter schienen lange nicht genug an sich selbst zu glauben. Sie liefen etwas hinterher. Aber zuletzt ist einiges geschehen – ihr Tempolimit im Kopf haben sie offenbar einfach aufgehoben.

Deutsche Athleten sind echte Renner geworden, einer von ihnen könnte bei den Europameisterschaften, die von Dienstag bis Sonntag in Zürich stattfinden, vielleicht sogar eine Einzelmedaille gewinnen. Und nach Bronze vor vier und Silber vor zwei Jahren ist auch eine Goldmedaille der Sprintstaffel nicht ausgeschlossen. Das letzte Zeichen der Hoffnung liegt nur zwei Wochen zurück, da verbesserte Julian Reus im Halbfinale der deutschen Meisterschaften in Ulm den 29 Jahre alten deutschen Rekord von Frank Emmelmann um eine Hundertstel auf 10,05 Sekunden. Im Finale rannten dann Reus und Jakubczyk mit einem Lüftchen zu viel Rückenwind 10,01 Sekunden, das Zielfoto kürte Reus zum Meister.

An den Fersen der allerschnellsten Läufer klebt oft ein Dopingverdacht

Da müsste nun sogar ein neuer Name her für die deutschen Leichtathleten, vor allem ein hübscherer. Bis vor kurzem waren sie eine Wegwerfgesellschaft. Alles, was ihnen in die Hände kam, warfen sie weg, Kugeln, Speere, Disken, Hammer, oft weiter als die Konkurrenz und gewannen damit viele internationale Medaillen. Auch den Stab beim Stabhochspringen ließen sie aus größerer Höhe fallen. Doch es hat sich etwas verändert. Die Deutschen haben schneller laufen gelernt. Und jetzt mischen sie beim größten Spektakel mit, das die Leichtathletik zu bieten hat, dem 100-Meter-Lauf.

An den Fersen der allerschnellsten Läufer klebt oft ein Dopingverdacht. Der alte deutsche Rekord von Frank Emmelmann stammt jedenfalls aus der Anabolika-Hochzeit des Sports. Wer fragt, wie es denn möglich sei, nun sauber schneller zu laufen als damals mit Dopingmitteln, bekommt von Idriss Gonschinska eine Antwort, die mit Zwischenfragen insgesamt 25 Minuten lang dauert. Manches im Sprint braucht also seine Zeit, vor allem braucht es viel Anlauf. Den setzt Gonschinska, Sprint-Experte und inzwischen Chefbundestrainer der deutschen Leichtathleten, vor vier Jahren an. Damals begannen Trainer und Athleten, die richtigen Fragen zu stellen. Eine davon war: Warum sind die anderen wirklich schneller?

Zusammengefasst lautet Gonschinskas Erklärung für die Tempoverschärfung der deutschen Sprinter: „Optimierung der Bewegungstechnik, Optimierung der Kräfteverhältnisse, ein verändertes Periodisierungssystem, und Glaube an sich selbst.“ Doch der Reihe nach. Bei der Analyse der schnellsten Sprinter fällt vor allem auf, dass die Schrittlänge größer geworden ist. Um nun ebenfalls die Schrittlänge zu vergrößern, also mit weniger, aber raumgreifenderen Schritten ans Ziel zu kommen, versuchen die deutschen Athleten ihr Abdruckverhalten auf der Bahn zu verbessern, dazu müssen sich unter anderem die Knie im richtigen Winkel befinden, die Füße an der richtigen Stelle aufsetzen, und um das erreichen zu können, brauchen wiederum die Muskeln die nötige Kraft und Schnelligkeit.

Im Training sind Experimente erwünscht: etwa bergab laufen oder sich ziehen lassen

Das Training teilen sich die besten deutschen Sprinter allerdings auch ganz anders ein. „Wir haben unser Periodisierungssystem verändert. Es gibt deutlich kürzere Trainingsziele“, sagt Gonschinska. Dadurch bleibe mehr Zeit für Regeneration und mehr Möglichkeit zum intensiveren Training. Gonschinskas Beispiel lautet: Lieber zweimal versuchen, die 100 Meter in 10,2 Sekunden zu laufen als zehnmal in 11,0. Denn wer öfter 11,0 trainiere, schaffe zwar Grundlagen, nähere sich jedoch nicht der Zielgeschwindigkeit. „Das ist fleißig, aber wenig effizient.“ Dabei geht es doch genau darum: Hohes Tempo anzubahnen, damit sich Kopf und Körper darauf einstellen. Im Training seien daher auch Experimente erwünscht, sagt Gonschinska, etwa bergab zu laufen oder sich ziehen lassen, um höheres Tempo zu gewinnen. „Ich kann Hochgeschwindigkeit nicht durch Dauerlauf entwickeln.“

Glaube ist gerade beim Sprint ein entscheidender Faktor

Schon im Frühjahr trainieren die deutschen Sprinter inzwischen dort, wo diese Hochgeschwindigkeiten leichter zu erreichen sind und sich auch die anderen schnellsten Laufnationen Beine machen, im warmen Florida. Bei einem Meeting in Florida rannte Martin Keller im Mai 2013 9,99 Sekunden, deutlich windunterstützt zwar und daher nicht rekordlistenrelevant, aber die Uhr blieb eben bei 9,99 stehen. Keller wusste nun, wie es sich anfühlt, schneller als zehn Sekunden zu laufen. Lucas Jakubczyk schaffte in Florida in diesem Jahr bei regulären Bedingungen auch schon 10,07 Sekunden. Diese schnellen Zeiten haben den Glauben der deutschen Sprinter an die eigene Stärke weiter wachsen lassen.

Glaube ist schließlich ein entscheidender Faktor, gerade beim Sprint, auch wenn er so kurz und körperlich daherkommt. „Die Gefahr ist immer, dass man verkrampft, die Muskeln vorne und hinten gleichzeitig anspannt“, sagt Gonschinska. Im internationalen Sprint gibt es dafür ein prominentes Beispiel, Asafa Powell, ein Opfer seiner eigenen Nerven. Der Jamaikaner ist höchst talentiert, verbesserte zwischenzeitlich sogar den Weltrekord. Doch bei großen Meisterschaften konnte er seine Leistungsfähigkeit nicht umsetzen, er verkrampfte. „Man muss eine gewisse Entspannungsfähigkeit einbringen, das kann man nicht trainieren, das ist auch Erfahrungssache“, sagt Gonschinska.

Eine kleine Einschränkung macht der Chefbundestrainer noch für die Aussichten auf die EM. „Die Konkurrenz ist so gut wie noch nie.“ Gleich mehrere Sprinter können unter zehn Sekunden laufen, darunter die Franzosen Jimmy Vicaut und Christophe Lemaitre sowie die Briten Chijindu Ujah und James Dasaolu. Mit ihnen wollen die deutschen Sprinter dennoch mithalten – im Rausch der eigenen Geschwindigkeit.

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