Ski-WM in den USA: Hang zum Siegen: Felix Neureuther will den Titel
„I’m coming on the Zahnfleisch daher“, sagt Felix Neureuther, wenn er sich ausgebrannt fühlt. Am heutigen Sonntag dürfte er vor allem Druck spüren. Denn der 30-Jährige zählt bei der Ski-WM in Colorado zu den Favoriten auf die Goldmedaille.
Bewunderer hat er selbst bei der Konkurrenz. Als Felix Neureuther nach dem Rennen am Freitag zum Shuttle geht, passen ihn mehrere junge Skirennläufer aus Asien ab, die es auf ein Foto abgesehen haben. Es ist warm in Vail, zu warm für einen Februarnachmittag in den Bergen von Colorado. Neureuther genießt es, noch ein bisschen im Freien zu stehen, in der Sonne. Den grünen Skihelm hat er noch immer auf, und über dem Rennanzug trägt er einen Anorak.
Der Riesenslalom bei den Ski-Weltmeisterschaften ist gerade zu Ende gegangen, Neureuther hat eine Medaille knapp verpasst, er ist Vierter geworden und hadert ein wenig mit sich. „Das ist natürlich bitter“, sagt der 30-Jährige aus Garmisch-Partenkirchen. Aber er hat immerhin sein bestes Saisonergebnis im Riesenslalom erreicht, „darauf lässt sich aufbauen“. Und sein wichtigstes Rennen steht ja noch bevor. An diesem Sonntag findet zum Abschluss der WM der Slalom statt, und da ist Neureuther einer der Favoriten auf Gold. Er könnte den ersten Weltmeistertitel für die deutsche Männermannschaft seit dem Abfahrtssieg von Hansjörg Tauscher 1989 gewinnen.
Der Pressesprecher springt als Fotograf ein
Als sich die Rennläufer noch bedanken, kommt die nächste junge Frau auf Neureuther zu. Es ist die Betreuerin des haitianischen Skiteams, auch sie will ein Bild mit dem derzeit besten Slalomfahrer der Welt. Der Pressesprecher des Deutschen Skiverbandes springt als Fotograf ein, während die Dame ein Papier vor Neureuthers Brust hält. „Pour Camille“, für Camille. Ihre kleine Tochter schwärmt für den deutschen Spitzensportler.
Felix Neureuther ist beliebt, überall, wo er hinkommt, scheint plötzlich gute Laune auszubrechen. Die einen bewundern seine Schlagfertigkeit, die anderen seine außergewöhnliche Herzlichkeit. Neureuther ist authentisch, wie es heißt, er verbiegt sich nicht. Von sich selbst sagt er, er sei „ein großes Kind“, weil er für jeden Unfug zu haben sei. Auf seinem Facebook-Account hat er einmal ein Video gepostet, auf dem er den Song „Gangnam Style“ parodiert, bekleidet mit dem Bikini seiner Freundin und einem Tüllröckchen. Kurz nach seinem Autounfall vor der Abreise zu den Olympischen Spielen in Sotschi, als er auf dem Weg zum Flughafen auf der Autobahn eine Leitplanke touchierte, postete er: „Tut mir leid, Planke.“ Kürzlich landete er einen Hit im Netz, als er sich im österreichischen Fernsehen selbst interviewte, weil der Reporter den Termin verpasst hatte.
Fast 500 000 Follower hat Neureuther
Fast 500 000 Follower hat Neureuther auf Facebook, zehnmal so viele wie Deutschlands Sportler des Jahres, der Diskus-Olympiasieger Robert Harting, und mehr als doppelt so viele wie Maria Höfl-Riesch, obwohl diese viel mehr Titel gewonnen hat als der gleichaltrige Neureuther. Trotz seiner immensen Beliebtheit gelingt es ihm, seine Privatsphäre zu schützen. Dass er seit eineinhalb Jahren mit der Biathletin Miriam Gössner liiert ist, wird in den bunten Blättern höchstens mal erwähnt.
Früher wollte er nicht zugeben, wie sehr ihn seine prominente Familie belastet
Am Abend bei der Siegerehrung kann Neureuther schon wieder lachen. Die Zeremonie findet mitten in Vail statt, auf einem halbrunden Platz, der während der WM „Championships Plaza“ heißt. Es sind viele Menschen gekommen, mehr als an den Tagen zuvor. Denn der Sieger heißt Ted Ligety und kommt aus den USA. Es ist die erste Goldmedaille für die Gastgeber. Die Fans schwenken Fahnen und feiern ihren Riesenslalom-Weltmeister. Anschließend spaziert Neureuther unbehelligt zurück ins Mannschaftshotel, das am Rande der Fußgängerzone liegt.
Neureuthers Wirkung erklärt der Alpindirektor im Deutschen Skiverband, Wolfgang Maier, mit einem einzigen Satz: „Er hat dieses Rosi-Gen mitbekommen.“
Rosi Mittermaier ist Felix’ Mutter, die Doppel-Olympiasiegerin von Innsbruck 1976, Deutschlands „Gold-Rosi“. Sein Vater Christian Neureuther war in den 70er Jahren der beste deutsche Slalomfahrer, er hat unter anderem in Wengen und Kitzbühel gewonnen. So eine Familie kann eine Bürde sein. In den ersten Jahren seiner Weltcup-Karriere ist es Felix Neureuther manchmal passiert, dass er mit Christian angeredet wurde. Ansonsten war er eben immer „der Sohn von Rosi“. Meistens lächelte er darüber. Was blieb ihm auch anderes übrig? „Ich würde es aber lustig finden, wenn mal jemand zu meinem Vater Felix sagen würde.“
Auch in Österreich ist Neureuther ein Star
In Österreich ist Felix Neureuther fast so populär wie in seinem Heimatland – aber eben als Felix Neureuther. Die Fans stört es auch nicht, dass der Deutsche im Slalom seit zwei Jahren der größte Konkurrent von Österreichs Skihelden Marcel Hirscher ist. „Dort werde ich ganz anders wahrgenommen“, sagt Neureuther in einem kleinen Hotel in Schladming. Zwischen Krafttraining und Mittagessen hat er noch zwei Interview-Termine, die letzten vor dem Abflug in die USA. Er kommt in Jogginghosen und nimmt sich Zeit. „In Österreich ist es wurscht, dass meine Eltern auch Skirennläufer waren.“
Lange Zeit hatte Felix Neureuther versucht, das Familienthema zu umgehen, wollte nicht preisgeben, wie sehr es ihn manchmal belastet. Schon gar nicht nach einem schlechten Rennen, es hätte wie eine Ausrede geklungen. „Der Druck, den ich mir selber mache, ist größer als der, den ich von außen spüre“, sagte er stattdessen. Den spürte Neureuther mit voller Wucht bei den Olympischen Winterspielen in Turin 2006, als er nominiert wurde, obwohl er nur die Hälfte der Qualifikationsvorgaben erfüllt hatte. Wegen der vielversprechenden Perspektive, hieß es. Andere höhnten, dass wohl eher der prominente Name den Ausschlag gegeben habe. Die Last, die Nominierung zu rechtfertigen, erwies sich als zu groß. Neureuther schied zweimal aus. Damals, sagt Felix Neureuther, „bin ich als ganz kleiner Mann heimgekommen“.
Auch danach blieb er zunächst das ewige Talent, dem die Erfolge der Eltern versagt blieben. Das hat ihn zermürbt. Kurz vor den Olympischen Spielen 2010 hätte er beinahe hingeschmissen und nach ein paar Rennen, in denen es überhaupt nicht lief, den Beruf gewechselt – stattdessen wuchs er über sich hinaus. Im Januar 2010 gewann Felix Neureuther den Slalom von Kitzbühel, sein erster Sieg im Ski-Weltcup. Es ist einer der prestigeträchtigsten Torläufe, den sein Vater 31 Jahre zuvor gewonnen hatte.
Seine Schwester stellte sie die Ski in die Ecke, arbeitet als Modedesignerin
Aber jener Sonntag kurz vor Beginn der Olympischen Winterspiele in Vancouver gehörte nur Felix – und das sah die ganze Familie so. Rosi Mittermaier erzählte später eine Episode, die für sie „das Allerschönste an diesem Tag“ war. Nach dem Rennen seien zwei Zuschauer an ihr vorbeigegangen, und da habe der eine zum anderen gesagt: „Da schau, da ist die Mama vom Felix.“ Mittermaier machte es glücklich, dass „der Felix endlich einmal nicht mehr der Bub einer Olympiasiegerin ist, sondern ich die Mama des Kitzbühel-Siegers“. Ihr Sohn sagte später: „Dieser Tag hat vieles verändert.“ Er erlebte das Rennen als Erlösung, eine Befreiung. Es folgten bis heute zehn weitere Siege.
Mit zweieinhalb stand er das erste Mal auf den Brettern
Felix Neureuther selbst sieht seine Berufswahl pragmatisch. Was sollen die Kinder erfolgreicher Skirennläufer auch anderes werden, wenn sie mit zweieinhalb Jahren das erste Mal auf den Brettern stehen, die Piste in Garmisch-Partenkirchen vor der Haustür liegt und die Familie im Winter fast täglich Ski fährt. „Da kommt man doch gar nicht drumrum.“ Und doch hätte er eine Wahl gehabt. Seine drei Jahre ältere Schwester Ameli und er liefen als Knirpse ihre ersten Rennen im örtlichen Skiklub, doch bevor es ernst wurde, stieg die Tochter aus – wegen ihrer Eltern. Als sie 14 Jahre alt war, durfte sie als Vorläuferin beim Weltcup-Slalom auf dem heimischen Gudiberg starten. Das ist eine besondere Auszeichnung, aber für die Jugendliche wurde der Auftritt zur Tortur, als schon im Ziel die Journalisten auf die berühmte Tochter warteten. Die Aufmerksamkeit war der damals scheuen Ameli zuwider. Wenig später stellte sie die Ski in die Ecke, machte später Karriere als Modedesignerin.
Für Felix hingegen gab es bald kein anderes Ziel mehr, als Skirennläufer zu werden. Er wäre auch ein ganz ordentlicher Fußballspieler geworden, selbst wenn er es vermutlich nicht ganz so weit geschafft hätte wie sein Kinderfreund Bastian Schweinsteiger. Er ist früher gegen Neureuther Skirennen gefahren, und noch immer gibt der Mittelfeldspieler des FC Bayern gerne damit an, dass er ihr letztes Duell gewonnen hat. Befreundet sind die beiden bis heute.
Christian Neureuther und seine Frau haben sich selbst so weit wie möglich im Hintergrund gehalten, schon damals, als es losging mit den Kinderskirennen. „Der Papa hat mir zu Hause noch die Ski gerichtet, und dann bin ich alleine mit den Kameraden losgeschickt worden. Bei den anderen haben die Väter die Ski getragen.“ Die Eltern bestanden auch auf einen Abschluss, obwohl Felix die Schule hasste und sich gerne früher auf das Skifahren konzentriert hätte. Er fügte sich und schaffte 2004 das Abitur.
Manchmal schadet sich Neureuther selbst, weil er es allen recht machen will
Ein Jahr zuvor war er in der Weltelite aufgetaucht, als der DSV den damals 18-Jährigen zur Weltmeisterschaft in St. Moritz mitgenommen hatte. Zwei Tage vor dem ersten Rennen trat Neureuther auf einer Pressekonferenz auf. Der Medienauflauf für den eigentlich chancenlosen Debütanten war riesig, er untermauerte die enorme Erwartungshaltung. Als der Neuling im zweiten Durchgang des Slaloms, für den er sich doch noch ganz knapp qualifiziert hatte, Laufbestzeit gelang, stieg Felix Neureuther endgültig auf zur Hoffnung des deutschen Skisports. Allerdings musste sich noch herausstellen, ob er mehr der Mutter nachgeraten würde, die sehr nervenstark und mit der richtigen Spur Lockerheit in die Rennen ging, oder doch eher dem Vater, der, wenn es darauf ankam, die Höchstleistung oft nicht abrufen konnte. Zunächst machte es Felix wie die Mutter. Er gewann die Rennen scheinbar mühelos und mit einer jugendlichen Unbekümmertheit, später war er dann eine Zeitlang eben doch oft auch der Sohn seines Vaters.
Die vielen Termine kosten Energie
Und manchmal schadet sich Felix Neureuther selbst, weil er es allen recht machen will. Vor der WM in Vail standen im Weltcup die wichtigen Slalom-Rennen in Zagreb, Adelboden, Wengen, Kitzbühel, Schladming auf dem Programm – es ging für die Slalomfahrer Schlag auf Schlag. Dazu kamen für Neureuther noch etliche PR-Termine und Medienauftritte. Jeder zerrte an dem Profisportler, das, gibt er zu, koste viel Energie. „I’m coming on the Zahnfleisch daher“, sagte er nach seinem dritten Platz in Schladming bei der Pressekonferenz.
Und auch der Körper des nun nicht mehr ganz jungen Rennfahrers leidet. Nach dem Unfall auf dem Weg zum Flughafen musste Neureuther ein paar Tage eine Halskrause tragen. „Ich war in einer Megaform und hatte dann keine Chance mehr.“ Im Herbst bremste ihn eine Rückenverletzung, wieder einmal, seit ein paar Jahren machen ihm die Bandscheiben zu schaffen. Trotzdem fuhr er gleich zu Saisonbeginn auf Anhieb wieder auf das Siegerpodest. In den vergangenen 16 Slalomrennen war er 13 Mal unter den besten drei.
Wie er mit den hohen Erwartungen heute umgeht? Felix Neureuther lächelt. Drucksituationen seien doch „das Beste, was einem Sportler passieren kann“. In Schladming hat er vor zwei Jahren bewiesen, dass er gelernt hat, damit umzugehen und seine erste Einzelmedaille gewonnen. In Vail wäre jetzt der nächste Schritt fällig: die Goldmedaille.