WM 2014: Halbfinale gegen Deutschland: Gastgeber Brasilien spielt nur noch schön brutal
Mittlerweile steht die WM trotz aller stürmischen Elemente im Schatten einer Brutalität. Auch das Spiel der traditionell filigranen Brasilianer ist geprägt von Grätschen und Befreiungsschlägen.
Gut zwei Jahre ist das jetzt her. Dass Thomas Müller den Ball eroberte, irgendwo dort, wo es nicht ganz so wichtig war, aber das sah der Kollege Gegenspieler ganz anders und fuhr die Stollen aus, hoch bis vor das Knie, mit vollem Anlauf und voller Wucht. Das Zivilrecht hat für solche Fälle den Strafbestand der vorsätzlichen Körperverletzung definiert, der Fußball die dunkelrote Karte. Aber Marcelo da Silva Junior, der Abwehrspieler von Real Madrid mit der Starkstromfrisur, kam mit Gelb davon. „Dazu muss man nichts sagen, das hat ja jeder gesehen“, sprach Müller später.
Am Dienstagabend sehen sich die beiden wieder. Im WM-Halbfinale von Belo Horizonte, und für Müller fügt es sich nicht ganz so schön, dass er wohl auf dem rechten deutschen Flügel stürmen und Marcelo auf der linken brasilianischen Seite verteidigen wird. Der Verteidiger Marcelo steht für den Stil der Brasilianer, für das Bekenntnis zur physischen Komponente des Spiels ohne Rücksicht auf Verlust. Fußball in Brasilien ist nur für Romantiker eine Fortsetzung der Samba auf grünem Rasen. Fußball ist hier zuerst Überlebenskampf und danach Ausdruck von Schönheit. Und genau so spielen die Brasilianer auch.
WM steht im Schatten der Brutalität
Es steht diese WM trotz aller überraschenden und stürmischen Elemente ein wenig im Schatten einer Brutalität, wie sie in dieser Form zuletzt 1962 in Chile zu besichtigen war. Der englische Schiedsrichter Ken Aston hat damals, nach dem Vorrundenspiel zwischen Italien und Chile gesagt, er habe kein Fußballspiel gepfiffen, sondern als Schlichter in militärischen Manövern agiert. Ganz so schlimm ist es in Brasilien nicht, aber die Tendenz zur gewalttätigen Auseinandersetzung ist schwerlich zu bestreiten. Und daran sind die Brasilianer nicht ganz unschuldig.
Das Viertelfinale gegen Kolumbien wird vor allem wegen der Verletzung des brasilianischen Schöngeistes Neymar in Erinnerung bleiben. Es war dies sicherlich ein brutaler Eingriff, allerdings kaum ein vorsätzliches Foul. Der Kolumbianer Juan Zuñiga hatte sein Knie zwar mit reichlich Anlauf von hinten in Neymars zartes Kreuz gedrückt, aber Vorsatz war ihm dabei keineswegs zu unterstellen. Neymars Verletzung war vielmehr der Tiefpunkt einer physischen Auseinandersetzung, sie wurde vor allem von den Brasilianern geprägt.
Es war der Tiefpunkt des bisher unfairsten WM-Spiels. 54 Fouls zählten die Statistiker, und die meisten davon begingen die Brasilianer, nämlich 31. Der Torhüter Julio Cesar sprang mit beiden Beinen voran in den Kolumbianer Carlos Bacca, was einen Strafstoß zeitigte und wohl nur deshalb keine Rote Karte, weil er selbst den Schwerverletzten gab und erst nach längerer Pause zum Rencontre vom Elfmeterpunkt bereit war. Die „New York Times“ wähnte den brasilianischen Stil als ausschlaggebend für „die Gesetzlosigkeit, in der Neymar verprügelt wurde“.
Brasilien definiert sich bei dieser WM über die Verteidigung
Das mag ein wenig übertrieben klingen und trifft doch den Punkt. Brasilien definiert sich bei dieser WM weniger über den Angriff als über die Verteidigung. Über die Viererkette, die hinten darüber wachen muss, dass der spärliche Ausschuss der angreifenden Kollegen zum Überleben reicht. Dabei geht es nicht um Ästhetik. Daniel Alves, vor ein paar Jahren noch der weltbeste Offensivverteidiger, hat seinen Platz auf der rechten Seite mittlerweile an den eher rustikalen Maicon verloren. Gefragt ist, was hart macht.
David Luiz, in seiner Frisur dem Kollegen Marcelo nicht ganz unähnlich, ist der bisher überragende Innenverteidiger des Turniers. Im Viertelfinale aber bearbeitete er den Kolumbianer James Rodriguez mit einer Aggressivität, wie sie für mehrere Gelbe Karten gereicht hätte. Luiz sah keine einzige, und vielleicht hat er sich dafür nach dem Spiel mit erhobenen Armen bei Gott bedankt. Ironischerweise erhielt sein Nebenmann Thiago Silva für ein vergleichsweise harmloses Vergehen die zweite Verwarnung. „Der beste Verteidiger der Welt“ (Real Madrids Trainer Carlo Ancelotti) ist damit für das Halbfinale gesperrt.
Als Mesut Özil eine Rote Karte bekam
Niemand wird dem Linksverteidiger Marcelo die Klasse absprechen. Marcelo ist gesegnet mit zwei brillanten Füßen, sein Speed auf der linken Seite ist atemberaubend, und Tore schießen kann er auch. Aber körperliche Zurückhaltung ist seine Sache nicht. Vor dem Tritt gegen Thomas Müller hatte er im spanischen Clasico zwischen Real und dem FC Barcelona schon mal Cesc Fabregas mit einer Linksrechtskombination beider Füße niedergestreckt, worauf eine Massenpanik ausbrach, in deren Verlauf auch der Deutsche Mesut Özil die Rote Karte sah.
Özil hat seinen Kollegen Marcelo damals mit Schweißperlen auf der Stirn und ausgefahrenen Ellenbogen verteidigt, was vor dem Duell in Belo Horizonte in der Retrospektive interessant ist, weil doch genau er zu den Spielertypen gehört, die in Brasilien kaum noch Zugang finden zum Spiel. Härte und Tempo fordern ihre Opfer und finden sie in Ästheten wie Özil.
Der ehemalige Ästhet und jetzige Fernsehkommentator Mehmet Scholl hat sich darüber ziemlich aufgeregt und viel öffentliche Beachtung gefunden. In Deutschland. In Brasilien, der Heimat des Jogo bonito, des schönen Spiels, interessiert sich niemand für solche Mäkeleien. Die Torcedores von Rio oder Sao Paulo oder Belo Horizonte waren mal die anspruchsvollsten der Welt. Heute bejubeln sie Grätschen und Befreiungsschläge mit der gleichen Lautstärke wie Tore und Dribblings. Aber wann gibt es die schon mal zu sehen?