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Das Russland der WM war grundsympathisch, eine alternative Version seiner selbst: Mit ausgelassenen Versammlungen und ungezwungenen Treffen zwischen In- und Ausländern.
© AFP PHOTO / Francisco LEONG

Weltmeisterschaft in Russland: Für den Kreml hätte die WM nicht besser laufen können

Während der WM hat sich Russland als alternative Version seiner selbst präsentiert. Schon an diesem Montag aber könnte es mit der ausgelassenen Stimmung vorbei sein.

Nur das müde Eröffnungsspiel der russischen Mannschaft gegen Saudi-Arabien und das Finale hat er im Moskauer Luschniki-Stadion verfolgt, jener Arena, in der er selbst noch vor ein paar Monaten um die Gunst der Russen geworben hatte: als Kandidat fürs Präsidentenamt, flankiert von russischen Sportstars und ohne richtigen Widersacher. Für Wladimir Putin war die Wiederwahl ein Heimspiel. Doch der sportliche Erfolg der Sbornaja war weniger vorhersehbar, und das war wohl der Grund, warum Putin bei den Spielen des Teams fehlte. Ein Präsident, der die Niederlage seines Teams im Stadion mit ansehen muss, macht keine gute Figur.

Doch auch wenn der russische Präsident der große Abwesende der WM war, scheint seine Rechnung aufzugehen: Der Ballsport eint Russland. Vor allem nach dem Überraschungstriumph des Nationalteams gegen Spanien befand sich das Land eine Woche lang im Freudentaumel. Und selbst die Niederlage gegen Kroatien im Viertelfinale wurde auf den Straßen Moskaus wie ein Sieg gefeiert: Endlich hat die Sbornaja die Herzen der Russen erobert. Und das Land hat sein Team gefunden. Die Debatte, ob Russland eine Fußballnation ist oder nicht, ist seit vergangenem Samstag Geschichte. Die Nationalspieler haben gekämpft, sie haben gegeben, was sie konnten.

Vor der Weltmeisterschaft galten die Männer der Sbornaja als überbezahlte, mittelmäßige Spieler. Nunmehr wird über die Errichtung von Denkmälern zu ihren Ehren debattiert. Der Moskauer Zoo benannte einen jungen Steppenadler nach Torhüter Igor Akinfejew. Der hatte im Achtelfinale im Elferschießen zwei Schüsse der Spanier gehalten. Der Zoo begründete die Benennung mit „blitzschnellen Reaktionen und einem scharfen Blick“. Internet-Memes sind im Umlauf, die Akinfejew als mehrarmige hinduistische Gottheit zeigen, an der garantiert kein Ball vorbeigeht. Das ganz auf Verteidigung konzentrierte Spiel der Russen wird frenetisch zur Siegesoffensive umgedeutet.

„Freunde! Wir haben das für unser Land getan!“

War vorher der Chor der Kritiker an der Sbornaja und deren Cheftrainer Stanislaw Tschertschessow erdrückend laut, wollen die Lobhudler nun nicht verstummen: Der Konzertpianist Denis Mazujew verglich das Spiel der Mannschaft mit dem sich allmählich steigernden Orchesterstück „Boléro“ von Maurice Ravel.

In den Talkshows der vom Kreml kontrollierten Sender gibt es kein heißeres Thema als die Unterstützung der Nationalelf als patriotische Bürgerpflicht und die nicht enden wollende Russland-Begeisterung der ausländischen Besucher. Die sonst staubtrockene Staatszeitung „Rossijskaja Gaseta“ sprach von einem Wunder. Und Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow kamen angesichts des öffentlichen Jubels nach dem Triumph gegen Spanien die Siegesfeiern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Sinn. Was er in den Straßen Moskaus gesehen habe, „ähnelt vielleicht in mancherlei Hinsicht den Berichten vom 9. Mai 1945“, behauptete Putins Sprachrohr.

Dass das unerwartet gute Abschneiden ein Grund zum Feiern ist, darüber waren sich ausnahmsweise sogar politische Feinde – Vertreter der Kreml-Elite und der Opposition – einig. In einem Tweet erklärte das Nationalteam: „Freunde! Wir haben das für unser Land getan! Wir haben das für euch getan! Danke für die Unterstützung!“

Der patriotische Stolz hat nichts Revanchistisches

Der Jubel der Russen ist Begeisterung über den ehrlichen Sieg, über die gleichberechtigte Teilnahme an einem Wettkampf der Nationen, über die internationale Anerkennung als Hausherr eines wichtigen sportlichen Ereignisses. Anders als 2014 bei Olympia in Sotschi, wo die Kritik an dem Großereignis die sportlichen Erfolge der Russen übertönte, scheint sich die Welt nun größtenteils mit den Russen zu freuen: Es war keine erwartbare, mit (wie sich später herausstellte) unlauteren Mitteln erzielte Höchstleistung. Ein Underdog hat sich und andere überrascht. Der patriotische Stolz hat nichts Revanchistisches, er kommt ohne politische Untertöne aus, ist nicht zum Fürchten. Er triumphiert nicht. Man könnte sagen: Er ist in seiner simplen Freude sympathisch.

Gleichzeitig gilt: Für den Kreml hätte die WM nicht besser laufen können. Das Event war zuvor reine Chefsache, ein gigantisches Bauprojekt, das Unsummen verschlang, eine weitere Prestigeveranstaltung. Nun aber hat die Gesellschaft Feuer gefangen – freiwillig, ohne dass sie zum Mitmachen überredet werden musste.

Das Russland, das man dieser Tage erleben kann, ist grundsympathisch, eine alternative Version seiner selbst: Es ist so, wie es auch sein könnte. Mit ausgelassenen, alkoholgetränkten Versammlungen in der Öffentlichkeit, ungezwungenen Treffen zwischen In- und Ausländern, hilfsbereiten Polizisten, die nicht in eigener Sache unterwegs sind – und angesichts der Bierdosen in den Händen der Fans die Augen ausnahmsweise zudrücken. Die Bürger genießen diese letzten Tage in vollen Zügen. Die Mehrheit der Russen weiß sehr wohl, dass sie Teil eines Spektakels sind, das am 16. Juli vorbei ist.

Der Repressionsapparat war auch während der WM im Einsatz

Bezeichnend ist, dass der Repressionsapparat auch während der WM im Einsatz ist. In der Teilrepublik Tschetschenien, wo sich Präsident Ramsan Kadyrow als feudaler Gastgeber der ägyptischen Nationalmannschaft inszenierte, hat der Gerichtsprozess gegen den dortigen Chef der Menschenrechtsorganisation Memorial begonnen. Ojub Titijew wird Drogenbesitz vorgeworfen; er streitet die Anschuldigungen ab. Ähnlich fragwürdig sind die Vorwürfe gegen einen Memorial-Vertreter in Karelien, wo die Behörden erneut Anklage gegen Juri Dmitrijew erhoben haben. Ihm wird sexueller Missbrauch seiner Adoptivtochter vorgeworfen. Zuvor war er vom Vorwurf der Kinderpornografie freigesprochen worden. Und in einem Gefängnis im hohen Norden führt der Ukrainer Oleg Senzow seit mehr als 50 Tagen einen Hungerstreik durch. Präsident Putin hat die Chance, ein Zeichen zu setzen und Senzow zu begnadigen, nicht genutzt.

So wie der Kreml deutlich macht, dass er keinen politischen Liberalisierungskurs einschlagen wird, so fällt auch die Antwort auf die Frage, ob sich in Russland durch die WM etwas verändert, ziemlich eindeutig aus: Es wäre zu hoffen, ist aber nicht anzunehmen.

Jutta Sommerbauer

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