Fußball-WM 2018: Als die russische Provinz sich in ihre Nationalelf verliebte
In den großen Städten feiern die Fußballfans eine riesige WM-Party. Aber wie sieht es abseits der Spielorte aus? Eine Reise durchs Hinterland, das mancherorts an Brandenburg erinnert.
Als Sergei Ignaschewitsch den Ball ins eigene Tor schießt, fällt in einem russischen Dorf 200 Kilometer nördlich von Moskau ein Mann um. Es ist exakt 17:12 Uhr, ein Krämerladen am Bahnhof von Redkino, Oblast Twer. Der Raum ist etwa 20 Quadratmeter groß, ein Kühlschrank mit Bier, ein Regal mit Snacks, paar Kekse, paar Nüsse, ein Spielautomat, drei Männer um die 50, eine Verkäuferin. Hinter dem Haus die Schienen. Und dann führt eine Straße (Asphalt) ins Dorf, die andere (Schotter) ins Nirgendwo.
Auf einem Fernsehbildschirm flimmern Musikvideos, russische Popmusik aus den Neunzigern. Der Mann rappelt sich wieder auf, vielleicht ist er betrunken, vielleicht nur müde, er hat im Stehen geschlafen, den Kopf auf einem Tisch abgelegt, und dabei verlor er das Gleichgewicht. Es ist mittlerweile 17:13 Uhr, Spanien führt mit 1:0. Aber das interessiert hier niemanden. Football? World Cup? „Njet“, sagt die Verkäuferin. Njet, sagen auch die Männer und widmen sich wieder dem kleinen Glück: den Musikvideos, dem Bier und dem Spielautomaten.
Die WM-Berichterstattung ist voll von bunten Bildern, feiernde Peruaner, tanzende Mexikaner und jubelnde Belgier. Die Fans erzählen von der positiven Stimmung im Land, der tollen Organisation und der unerwarteten Gastfreundschaft. Die Spielorte haben sich mächtig ins Zeug gelegt. Man darf Bier auf der Straße trinken, was normalerweise verboten ist. Sogar die Regenbogenflagge hängt in einigen Stadien. Die Polizisten lächeln manchmal, und wenn an einer Häuserwand in einem Vorzeigeboulevard mal eine Fassade bröckelt, wird einfach eine Plane darüber gespannt, die mit dem Bild einer heilen Fassade bedruckt ist.
Und seit Sonntagabend feiern auch die Russen kräftig mit. Nach dem Sieg gegen Spanien fand in der Nikolsaya Straße in Moskau eine Party statt, die bis in den frühen Morgen dauerte. Die große neue Freiheit, und die Fans erzählten freudetrunken, dass seit der Weltraumfahrt von Juri Gagarin nichts die Menschen in diesem Land so glücklich gemacht hat wie diese WM.
Aber wie sieht es eigentlich abseits der Spielorte aus? Wie wird die WM in Städten zwischen den prunkvollen Megacities rezipiert, wo es keine Nikolskaya Straße und Fifa-Fanfeste gibt? Feiern die Menschen auch im Hinterland ein russisches Sommermärchen?
Es gibt hier Orte, die „schwarzer Dreck“ heißen
Redkino liegt auf der Strecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg. Es ist eine dieser unzähligen unsichtbaren Siedlungen, an denen täglich die Schnellzüge vorbeifahren, aber niemals halten. Kleine Städte, die irgendwann zu Dörfern werden und dann zu Flecken, bis sie ganz verschwinden. Die russische Geografin Tatiana Nefedowa hat sie mal als „schwarze Löcher“ bezeichnet. Sie geht davon aus, dass sie 70 bis 80 Prozent von Russlands Nordwesten ausmachen.
Es gibt hier Orte, die heißen Chernay Gryaz, schwarzer Dreck. Verlassene Orte wie Jeljakowo, 500 Kilometer nordwestlich von Moskau, in denen nur noch ein Bewohner lebt. Orte wie Tschudowo, wo 40 Prozent der Kinder keine Schule besuchen, aber mit 13 oder 14 Jahren verheiratet werden. Die großen Städte wirken in dieser Region wie Magneten. Nach und nach ziehen die Menschen weg, sie gehen nach Norden (Sankt Petersburg), nach Süden (Moskau) oder wenigstens ins 30 Kilometer entfernte Twer, eine Stadt mit Einkaufsstraße, Bars und Jobs.
Am Morgen des Achtelfinales zwischen Russland und Spanien sitze ich im Highspeed-Zug, der in dreieinhalb Stunden von Moskau nach St. Petersburg fährt. Er hält auch in Twer, und von dort kommt man weiter nach Redkino. Nach knapp 90 Minuten eine Ansage auf Englisch, fast eine Warnung: „Bitte steigen Sie hier nicht aus, es sei denn, Sie haben Ihr Ziel wirklich erreicht. Dieser Zug hält nur eine Minute und fährt ohne Ankündigung weiter.“ Es klingt, als sei hier, in Twer, noch nie ein Tourist oder Fußballfan ausgestiegen. Warum auch? Es gibt in der Stadt aktuell nicht mal einen Verein. Der ehemalige Drittligist FK Wolga Twer löste sich 2017 auf.
Rund um den Bahnhof verrät nichts, dass ein paar hundert Kilometer entfernt eine WM stattfindet. Hier bröckeln die Fassaden, aber hier spannt niemand eine schicke Schutzfolie drüber. Hier gibt es kein Make-up, keine Dekoration. Der Fußweg vom Bahnhof in die Stadt führt über rissigen Asphalt, teils über aufgeweichte Erde und Tram-Gleise. Das erste Schild in Englisch nach zwei Kilometern: „Sexshop“. Männer spazieren in Unterhemd oder Camouflage-Jacken durch die Stadt, die Frauen verkaufen Heidelbeeren am Straßenrand.
„Eishockey ist populärer“
400.000 Einwohner sollen hier leben, aber in Russland ist das eine Kleinstadt, fast ein Nest, und so wirkt Twer auch. Ein Polizist hält mich an und fragt, was ich hier wolle. „Tourist“, sage ich. „Tourist?“, fragt er skeptisch. Ich muss die Hotelreservierung vorzeigen, mein Visum, meinen Ausweis, ah, Journalist. „Natürlich, Journalist. Haben Sie Tourist verstanden?“ Er schaut mich lange an, lässt mich dann aber weitergehen, weil ein Mann, der sein Unterhemd ausgezogen hat, mitten auf der Straße steht.
Im Zentrum befindet sich ein hübscher Park, in dem sie eine Hüpfburg für Kinder aufgebaut haben. Und endlich ein Hinweis auf die WM: ein Poster mit dem Maskottchen Zabivaka. Ein paar Meter weiter ein Café. Der Platzanweiser am Eingang spricht kein Englisch, holt aber den Betreiber, der wiederum eine junge Kellnerin herbeiruft, die schließlich übersetzt: „WM, ja, zeigen wir. Manchmal wird's voll. Manchmal auch nicht.“ Interessiert die Menschen hier Fußball nicht? „Eishockey ist populärer.“
Und wie ist es heute, wenn Russland im Achtelfinale gegen Spanien spielt? Sie schauen sich fragend an. Vielleicht trauen sie ihrer Mannschaft nicht so recht. Vielleicht trauen sie auch dem Fußball nicht. Die korrupten Funktionäre, die stinkreichen Oligarchen, die irren Hooligans. Es ist in den vergangenen Jahren nicht immer einfach gewesen in Russland, Fußball gut zu finden. Zu vielen Erstligavereinen kommen oft nicht mehr als 5000 Zuschauer.
Zurück zum Bahnhof, weiter nach Redkino, Fahrtzeit eine halbe Stunde, das Ticket kostet 85 Rubel, 1,15 Euro. Die Kontrolleurin geht gemeinsam mit einem Polizisten die Waggons ab, die im Inneren aussehen, als hätten sie sich schon zu Nikita Chruschtschows Zeiten durch die UdSSR gequält.
In Russland kommt man immer wieder an Orte, die in zwei Jahrhunderten existieren könnten. Die so weit weg sind von dem Prunk und Protz Moskaus wie es Juri Gagarin 1961 von der Welt war. Es heißt dann oft, die Zeit wäre irgendwann stehengeblieben. Eigentlich aber läuft die Zeit in vielen Orten rückwärts. Auch am Bahnhof von Redkino. Hinter dem Krämerladen, in dem die Männer Musikvideos schauen und Bier trinken, befindet sich die Toilette. Oder das, was davon übrig ist: Ein Loch in einem Wellblechverschlag, man steht im wahrsten Sinne des Wortes in der Scheiße.
An den Gleisen trinken Jugendliche Bier, sie warten auf den Abend, dann können sie die Straße ins Dorf oder den Schotterweg ins Nirgendwo nehmen. Viele der umliegenden Holzhäuser stehen leer. Es sieht aus wie eine Westernstadt im tiefen Osten. Das Geld, das Russland mit der WM einnimmt, wird hier nie ankommen.
Ein bisschen wie in Brandenburg
Im vergangenen Jahr geriet Redkino international in die Schlagzeilen. Sogar die BBC schickte einen Reporter in das Kaff. Auf einer Geburtstagsfeier hatte ein betrunkener Mann neun Menschen erschossen, nur eine Frau überlebte, weil sie sich unter einer Decke versteckte. Sie erzählte später, dass der Täter damit geprahlt hatte, früher bei den Fallschirmjägern gewesen zu sein. Die anderen Partygäste hätten ihm aber nicht geglaubt, was den Betrunkenen in Rage versetzt hätte. „Da, yes“, sagt einer der Gäste im Krämerladen, als ich ihm die Nachricht auf einer russischen Webseite zeige. Er kannte den Mann. Dann zieht er die Schultern hoch. Was soll man machen?
Aber auch ein Ort wie Redkino lässt sich von einer anderen Seite betrachten. Ein Stück weiter ins Dorf hinein sieht es jedenfalls schon freundlicher aus. Fast idyllisch, ein bisschen wie ein brandenburgisches Naherholungsgebiet. Tatsächlich haben viele Moskowiter hier ihre Datschen und Gärten.
In einem Café sitzen ein Vater und sein Sohn, Polohemd, iPhone, iPad, Rolex. Der Vater sagt, wohnen sei hier wirklich schwierig, aber am Wochenende ist es schön. So ruhig, so anders als Moskau. Im Garten pflanzen sie Tomaten, Gurken und Beeren an. Sie haben Russenmützen in den Nationalfarben aufgesetzt. Sie sind die einzigen Gäste hier. „Viele interessieren sich nicht mehr für Fußball. Jedenfalls nicht so wie früher, zu den großen Zeiten. Einige wissen nicht mal, wie unser Torwart heißt.“ Der Sohn sagt: „Akinfejew! Akinfejew!“
Ein bisschen erinnert das alles an Deutschland Mitte der Nullerjahre. Die EM 2004 steckte noch in den Knochen, wenige Monate vor der WM 2006 verlor die DFB-Elf 1:4 gegen Italien, die Bild-Zeitung forderte den Rücktritt von Klinsmann, andere Zeitungen berichteten von No-go- Areas im Osten, von Hooligans, von den hässlichen Deutschen, die immer nur Bier trinken und schlecht gelaunt sind. Die WM war kein Turnier, auf das sich die Menschen freuten. Dann aber der Sieg gegen Polen, Odonkors Sprint, die Initialzündung, der Beginn des Sommermärchens.
Wie wird es hier, wenn die Sbornaja heute gewinnt? Werden sie sich sogar in Redkino, Chernay Gryaz oder in Wladiwostok kurz vor der nordkoreanischen Grenze in den Armen liegen?
Die Geschichte der Nationalelf besteht aus Misserfolgen
Kurz vor dem Ende der ersten Halbzeit springe ich in den Zug zurück nach Twer. Die Bahn ist voll. Die Menschen schauen aus dem Fenster. Plötzlich ruft ein Junge: „Rassija!“ Und dann schütteln einige ungläubig den Kopf. Russland hat ausgeglichen, irre eigentlich. Aber die kriegen doch noch eines, oder?
Russen, sagt man, freuen sich nie und lächeln nie. Das mag ein Klischee sein, aber wenn man durch das Land fährt, bewahrheitet es sich immer wieder. Wollen sie keine Schwäche zeigen? Oder empfinden sie Lächeln als aufgesetzt? Eine Studie hat mal einen Zusammenhang zwischen der politischen Lage eines Landes und der Bedeutung des Lächelns hergestellt. In Ländern mit unstabilen sozialen Systemen wirkt ein Lächeln falsch oder verfrüht. Und so sei es in Russland. Andere sagen, dass in Russland das Lächeln viel bedeutender ist als etwa in den USA oder Deutschland. Es wird nicht aus Höflichkeit gelächelt, sondern nur dann, wenn es wirklich einen Anlass gibt. „Grundloses Lachen ist ein Zeichen von Torheit“, heißt ein russisches Sprichwort.
Ähnlich verhält es sich im Fußball. Die Geschichte der sowjetischen und russischen Nationalmannschaft ist, im Gegensatz zur deutschen, vor allem eine Erzählung von vielen Misserfolgen und zweiten Plätzen. Die Menschen fragen also: Ist die Euphorie wirklich angebracht? Kann man dem Jubel trauen?
Als hätten sie sich gerade in ihre Mannschaft verliebt
An jenem Sonntagabend, beim Spiel zwischen Russland und Spanien, kann man wunderbar den Wandel von Skepsis in Freude beobachten. Den Zeitpunkt, an dem sich die Mundwinkel langsam nach oben bewegen. Als ich in Twer ankomme, hat sich das Bild bereits verändert. Die Menschen eilen nun in Restaurants und Bars, sie haben erfahren, dass heute Russlands Fußball ein kleines Wunder vollbringen kann. Als ich bei dem Café ankomme, lächelt die Kellnerin. „Manchmal wird's voll. Manchmal auch nicht“, sagt sie. „Heute ist es voll.“ Aber ein Platz ist noch frei, komm nur mit.
Und plötzlich im Inneren: hunderte Menschen. Sie schauen gebannt auf den Fernseher, es ist, als würden sie gerade Frieden mit ihrer Mannschaft machen. Mehr noch: Als hätten sie sich verliebt. Auf den zweiten Blick oder auf den dritten. Und es wird immer voller, sie drängen von außen in das Café. Im Elfmeterschießen drehen sich einige weg, sie halten es kaum noch aus. Sie singen: „Akinfejew! Akinfejew!“ Was für ein Teufelskerl.
Spät in der Nacht flimmern immer noch Bilder von feiernden Menschen aus der Moskauer Nikolskaya Straße über den Fernseher. Aber nun machen sie auch in Twer die Nacht zum Tage, ein bisschen jedenfalls. Die Jugendlichen fahren mit ihren Autos zum Lenin-Platz. Sie lassen ihre Russlandfahnen im Wind wehen, die Reifen quietschen, sie rufen „Rassija! Rassija!“ Und sie trinken auch hier Bier, mitten auf der Straße. Um 23 Uhr fährt ein Polizeiauto vor, die Beamten steigen aus. Sie lächeln nicht, aber sie schreiten auch nicht ein. Sie stehen einfach nur daneben.