Die Türkei und der Patriotismus: Erdogan nutzt den Fußball als sein Instrument
In der Türkei ist der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft. Das weiß auch Präsident Recep Tayyip Erdogan für sich zu nutzen.
Es waren Momente der kompletten Ekstase. Mit ausgebreiteten Armen lief Kaan Ayhan zur türkischen Fankurve im Stadion von St. Denis. Seine Mitspieler eilten dazu und begruben ihn unter sich. Der letzte Akt des kollektiven Jubels am Montagabend nach dem Tor zum 1:1 gegen Frankreich war dann eine Wiederholung der Geste, mit der die türkischen Nationalspieler schon am vergangenen Freitag Aufsehen erregt hatten. Mehr als die Hälfte der Spieler reihte sich neben der Eckfahne auf und salutierte mit dem Militärgruß.
Damit zeigten sie erneut ihre Unterstützung für die Streitkräfte, die am Militäreinsatz gegen die Kurdenmiliz YPG in Nordsyrien beteiligt sind. Der Torschütze Ayhan stand da allerdings nicht mehr bei seinen Teamkollegen. Der Abwehrspieler war schon auf dem Weg zurück in die eigene Spielhälfte. Wie die Nachrichtenagentur AP berichtet, habe es danach einen kurzen Disput zwischen Merih Demiral und Ayhan gegeben. Demiral soll ihn dazu animiert haben, ebenfalls zu salutieren.
Doch diese Geste der türkischen Nationalspieler ist international überaus umstritten. Die Uefa ermittelt gegen den türkischen Verband, weil politische Meinungsbekundungen bei Spielen verboten sind. Und Ayhan war als Profi von Fortuna Düsseldorf dafür kritisiert worden, dass er sich am vergangenen Freitag an dem Jubelgruß beteiligt hatte.
Ayhan selbst hat sich bisher nicht dazu geäußert. Doch sein Nationaltrainer Senol Günes verteidigte nach dem Spiel den Jubel. „Der militärische Gruß ist kein negatives Verhalten. Wir wollen nicht, dass unsere Soldaten in ein anderes Land einmarschieren“, sagte der 67-Jährige. „Aber wenn es hier in Frankreich Gewalt gäbe, würden die Franzosen das Gleiche tun wie wir. Das sind Taten des guten Willens, um unsere Soldaten zu ermutigen.“
Günes spricht für die Mehrheit der Türken, er gibt die derzeit patriotische Stimmungslage im Land wieder. Und als erfolgreicher Nationaltrainer, er führte die Türkei bei der WM 2002 auf Platz drei und steht mit dem Team jetzt kurz vor der Qualifikation für die Europameisterschaft, finden Günes’ Worte nur umso mehr Gehör.
In der Türkei ist der Fußball ein Spiegelbild der Gesellschaft. Das weiß natürlich auch Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Er liebt den Fußball. Und er weiß, dass er mit dem Glanz auf dem Feld auch die Gesellschaft beeinflussen kann“, sagt ein türkischer Fußballexperte aus Istanbul dem Tagesspiegel. Er will jedoch nicht, dass sein Name veröffentlicht wird. Denn er steht Erdogan kritisch gegenüber. „Erdogan kontrolliert alles mit harter Hand. Deshalb hat er auch dafür gesorgt, dass einer seiner Vertrauten Präsident des Fußballverbands geworden ist.“ Nihat Özdemir ist zugleich einer der mächtigsten Unternehmer, er steht einem Baukonzern vor.
Kein Wunder also, dass Özdemir seit dem Beginn der Militäroffensive ebenfalls für die Armee trommelt. „Wir alle, die Spieler und die sportliche Leitung, sind mit Gebeten an der Seite unserer Soldaten“, sagte er.
Erdogan instrumentalisiert den Fußball immer wieder für sich. Bei einer Rede vor zweieinhalb Jahren erklärte er auch, warum: „Ich glaube, dass Fußball und Politik viel gemeinsam haben. Der Wettkampf ist der Kern von beiden, Fußball und Politik. Mein Trainer sagte mir früher immer: Junge, du musst den Ball fressen.“
Erdogan zeigt sich daher nicht nur bei Länderspielen im Stadion oder trifft die Nationalmannschaft. Der 65-Jährige besucht auch besondere Spiele der großen Istanbuler Klubs Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray – oder die seines Lieblingsvereins Basaksehir. Und mit großer Genugtuung sucht er auch die Nähe zu den Fußballstars. Nicht umsonst ist er Trauzeuge des ehemaligen deutschen Nationalspielers Mesut Özil sowie des früheren türkischen Nationalmannschaftskapitäns Arda Turan. „Er muss das gar nicht selbst forcieren. Die Spieler fragen ihn“, sagt der türkische Fußballexperte. „Und für Erdogan ist das natürlich sehr gute Propaganda.“
Bald kann sich Erdogan auf der größten Fußballbühne präsentieren
Die Jubel-Grüße an das Militär musste Erdogan allerdings erst gar nicht einfordern – davon ist der türkische Fußballexperte fest überzeugt. Denn in der türkischen Gesellschaft existiert eine enge Verbindung zum Militär. So lautet ein Sprichwort: „Jeder Türke wird als Soldat geboren.“ Daher betont der Experte: „Die Nationalspieler handeln mit ihrem Salut nicht ideologisch. Es ist für sie als Patrioten normal, die Armee zu unterstützen.“
Mögliche Sanktionen durch Europas Kontinentalverband Uefa beeindrucken sie deshalb nicht. „Sie würden es immer wieder tun. Und sie würden nicht verstehen, wenn sie dafür bestraft werden würden“, sagt der türkische Fußballexperte. Schließlich hatten prominente Nationalspieler wie Hakan Calhanoglu vom AC Mailand und Merih Demiral von Juventus Turin schon vor den beiden Länderspielen der vergangenen Tage Grußbotschaften an die Armee geschickt.
All dies ist selbstverständlich ganz nach Erdogans Geschmack. Und bald kann er sich sogar auf der ganz großen Fußballbühne präsentieren. Am 30. Mai 2020 wird in Istanbul das Champions-League-Finale ausgetragen. Auch das wird Erdogan bestimmt für sich zu nutzen wissen.