Doping im Radsport: Epo und Aicar - Verblüffende Parallelen
Nach dem Dopingbericht über die Tour de France 1998 steht das Dopingmittel Epo, mit dem Sportler ihre Audauerleistung steigern können, im Mittelpunkt. Was sich heute mit Epo abspielt, könnte sich in einer Dekade mit Aicar wiederholen.
Eine gute Figur geben die Protagonisten der aktuellen Epo-Aufarbeitung beim besten Willen nicht ab. Die Halbwahrheiten von Jan Ullrich und Erik Zabel über ihre früheren Dopingpraktiken haben sich im Lichte der späten Nachkontrollen als armselige Vertuschungsversuche entpuppt. Nachdenklich für die Gegenwart sollte allerdings stimmen, dass die heutige Posse sich in der Zukunft als Farce wiederholen könnte. Mit Aicar statt Epo in der pharmazeutischen Hauptrolle.
Die Parallelen sind verblüffend. Beide Präparate haben hohes medizinisches Potenzial. Epo hilft gegen Blutarmut, stärkt Patienten nach schweren Operationen und Chemotherapien. Aicar baut Fett ab und sorgt gleichzeitig für eine Stärkung der Muskulatur. Angesichts des Übergewichtsproblems in der westlichen Welt könnte sich Aicar als Wundermittel für einzelne Patienten wie auch die Gesundheitssysteme allgemein erweisen. Kosten für Erkrankungen, die aus der Belastung des Organismus durch Übergewicht resultieren, könnten drastisch reduziert werden.
Epo und Aicar besitzen aber auch enormes Potenzial für die Leistungssteigerung in Ausdauersportarten. Während Epo zu einem Zuwachs an Sauerstoff im Blut führt, lässt Aicar nach Ansicht des Dopingexperten der Universität Köln, Mario Thevis, die Mitochondrienzahl, also die „Kraftwerke“ der Muskelzellen, steigen. Gemeinsamer Effekt: Die Ausdauerleistung steigt.
Noch eine Gemeinsamkeit gibt es: Beides sind natürliche Substanzen. Sie tauchen auch im ungedopten Körper auf. Aufgabe der Dopingfahnder ist es, körpereigene Substanzen von identischen, aber von außen zugeführten Substanzen zu unterscheiden. Bei Epo gelang dies erst im Jahr 2000. 1998, im Jahr der jetzt im Fokus stehenden Skandaltour, war dies noch nicht der Fall. Sportverbände behalfen sich mit einem Grenzwert: Bei einem Hämatokritwert von über 50 Prozent wurde eine Schutzsperre verhängt. Bei Aicar ist nicht einmal das der Fall. Ein Test, der körperfremdes Aicar detektiert, sei in Arbeit, versicherten sowohl das Kölner Antidopinglabor als auch die Weltantidopingagentur Wada dem Tagesspiegel. Es gibt ihn aber noch nicht, was potenziellen Sportbetrügern die Einnahme erlaubt. Einen Grenzwert für Aicar hat das Kölner Labor in einer Studie bereits ermittelt. Zum Einsatz kommt er im aktuellen Antidopingregime aber nicht.
Nicht einmal Auskünfte über höhere Aicar-Konzentrationen geben die Dopingfahnder. Nun sollte man jemandem wie Christopher Froome nichts unterstellen. Aber angesichts der bestehenden Betrugsmöglichkeiten ist von der heutigen Generation von Leistungssportlern eine größere moralische Festigkeit vonnöten als von der vorangegangenen, damit sie nicht in die gleichen Fußstapfen tritt. Sachlich befindet sie sich in der gleichen Situation. Ob sie sich anders entschieden hat, wird man wissen, wenn neue Tests retroaktiv angewendet werden. Das Fatale ist: Man ist gezwungen, so lange zu warten. Und man muss lernen, mit seinen Zuneigungen strategisch umzugehen.
Eigentlich ist die Identifizierung mit Sportstars die Grundlage des Sport-Medien-Geschäfts. Mit den Epo-Nachtests von 1998 hat sich aber das so offen und ehrlich wirkende Jungengesicht des Jan Ullrich als grundfalsch herausgestellt. Er war ein so schönes Gegenbild zu dem sichtlich von Machtwillen und Ehrgeiz getriebenen, ja sogar zerfressenen Antlitz des Lance Armstrong. Doch dieser Eindruck täuschte. Er täuschte ebenso bei dem jovialen Erik Zabel, der sich so wirkungsvoll die Tränen über das Gesicht kullern ließ, als er von seinem vermeintlichen Mini-Doping erzählte. Man war doch versucht, ihm diese 20 Tage Epo glatt zu verzeihen. Wer heute wie Froome mit Eloquenz, Geduld und Verständnis auf die sich ihm gegenüber aufbordende Verdachtswand eingeht, wird an den Bildern seiner Vorgänger gemessen. Wenn man nun Schwierigkeiten hat, ihm zu glauben, so ist dies auch ein Erbe der Generation Ullrich und Zabel.
Tom Mustroph