Von Helgoland nach Kiel: Eine Rekordfahrt über die Nordsee
Als erster Deutscher will Boris Herrmann das Vendée Globe Race gewinnen. Einmal nonstop um die Welt – allein. Über eine fast unmögliche Mission.
Ein hohes Summen. Beinahe ein Pfeifen. Es hat sich des silberfarbenen Rumpfs mit der vagen Präsenz eines Tinnitus bemächtigt. Woher es stammt, weiß auch Boris Herrmann nicht genau. Vielleicht sei es der Fahrtwind in den Wanten, sagt der Segler. Jedenfalls stellt sich das Summen ein, wenn die Malizia schnell wird, und schneller.
Es ist da, als im Westen Helgoland vorbeifliegt, der Wind wirft kleine weiße Schaumrollen aufs Meer. Es ist da, seit Boris Herrmann in der Elbmündung den Motor abstellte, der seine 18-Meter-Yacht mit der Schwerfälligkeit eines Treckers im Strom hatte ramentern lassen. Sie nahm Fahrt auf, als Herrmann den Bug nach Norden wandte und eine unerwartet kraftvolle Brise das Gefährt beschleunigen ließ. Das Summen setzte ein bei 14 Knoten, und es ist immer noch da, als die Geschwindigkeitsanzeige auf 18 Knoten geklettert ist, dann auf 19 Knoten, 21 Knoten. Es scheint gar kein Ende zu nehmen mit der Beschleunigung. Gewöhnliche Segelyachten schaffen das nicht. Dem stehen physikalische Gesetze entgegen.
Tempo, Hektik, Ungeduld
Boris Herrmann steuert kein gewöhnliches Segelschiff. Überhaupt ist weniges von dem, was der 37-Jährige tut, gewöhnlich. Er hat sich das höchste Ziel gesteckt, das man als Hochseesegler erreichen kann, vielleicht deshalb wird es als „Everest der Meere“ bezeichnet: Als erster Deutscher will er am Vendée Globe Race teilnehmen, das im Herbst 2020 startet und ihn allein auf seinem Boot einmal nonstop um die Erde führen wird.
Es ist ein Kindheitstraum des gebürtigen Oldenburgers, seit er Bilder vom Start dieses Rennens zu Gesicht bekam – exzentrische Rennyachten bejubelt von hunderttausenden Schaulustigen, die die Promenaden, Kais und Ufer von Les Sables D’Olonne säumten. Und auf jedem der schwimmenden Meeresungetüme stand nur ein Mensch, der verlegen Richtung Menge winkte, vor sich die Stürme von vier Ozeanen, die drei großen Kaps und endlose, kalte Monate ohne Schlaf. In den vergangenen zehn Jahren ist Herrmann Teil dieser kleinen Elite von Soloseglern geworden, die gegen die Physik, gegen den Markt, gegen das Wetter und gegen sich selbst aufbegehren. Und alldem setzen sie etwas entgegen, das sie antreibt und ausmacht. Was es ist?
Offenbaren wird Boris Herrmann es nicht. Nicht sofort. Nicht jetzt. Nicht, da er barfuß am Heck seines Schiffes steht, gelassen die Füße überkreuz, als wartete er an einer Straßenecke auf eine Verabredung, die sich verspätet hat. Wie er so dasteht, könnte man denken, dass ihm nichts ferner liegt als Tempo, Hektik, Ungeduld, diese hässlichen Schwestern der Leistungsgesellschaft.
Dabei geht es gerade in diesem Moment um einen Rekord. Aufgestellt vor 18 Jahren, beträgt er 43 Stunden und 46 Minuten und ist seither das Maß der Dinge für die 500 Meilen lange Strecke von Helgoland nach Kiel. Sicher, dorthin muss Herrmann ohnehin, um ein Messgerät in sein Schiff einbauen zu lassen. Doch ohne den zusätzlichen Ansporn einer neuen Bestzeit geht es für ihn nicht. Warum auch nicht, wenn man das geeignete Boot hat?
Voraus liegt das offene Meer. Der Rekord wäre machbar, für den sich Herrman vier Mitsegler an Bord genommen hat, es müsste nur so weitergehen und die Malizia noch ein paar Stunden mühelos über die Nordsee gleiten.
Alles an diesem Schiff wirkt überdimensioniert. Der drehbare Profilmast, 30 Meter hoch, der ein Großsegel mit den Ausmaßen eines zehngeschossigen Gebäudes trägt; die weit über den Rumpf hinausragenden Spreizen; das flache Deck und ein Gewirr von Leinen, mit denen bis zu 490 Quadratmeter Segeltuch im Zaum gehalten werden; Ballasttanks im Schiff und ein beweglicher Kiel, der bis zu 45 Grad seitlich geneigt werden kann, halten das Schiff aufrecht.
Es steht an der Schwelle zu einer technischen Revolution: Yachten wie die Malizia, groß wie ein Sattelschlepper, können fliegen. Denn da sind noch die beidseitig aus dem Rumpf ragenden Schwerter, die wie die Enden eines Airbusflügels aussehen und für Auftrieb sorgen. Ab einer Geschwindigkeit von 14 Knoten entfalten sie ihre Wirkung, heben die 7,6 Tonnen schwere Malizia an und lassen sie ein Tempo von über 30 Knoten erreichen.
Empfänge, Sponsoren-Treffen, Vorträge
Was in ihr steckt, hat Sebastian Josse beim Vendée Globe bewiesen, als er an dritter Position liegend aufgeben musste, nachdem eines der Flügelschwerter im südlichen Indischen Ozean kaputt gegangen war. Ein deutscher Immobilienunternehmer erwarb das 5,5 Millionen Euro teure Boot und vercharterte es an Boris Herrmann. Der tat sich mit Pierre Casiraghi zusammen, einem segelfanatischen Spross des Fürstenhauses von Monaco, und beide gründeten sie das Malizia-Team. Manche Rennen bestreiten sie gemeinsam.
„Wenn ich antrete, will ich gewinnen“, hat er über seine Ansprüche einmal gesagt. Doch könnte ihm für einen Sieg beim Vendée-Globe trotz prominenter Unterstützung der Neubau fehlen, in den die technischen Errungenschaften der vergangenen vier Jahre einfließen würden. Er will das wettmachen, indem er sein Schiff, das vor vier Jahren zu den schnellsten gehörte, so gut beherrschen lernt, wie kaum einer sonst in dem zu erwartenden Teilnehmerfeld beim Start im Herbst 2020.
Um das zu erreichen, hat sich Herrmann ein anspruchsvolles Regatta-Programm verordnet, das ihn im Sommer quer über den Atlantik nach Hamburg geführt hat, wo er eine Wohnung in der Hafencity hat. Die Überfahrt war kraftraubend, und er bekam wenig Schlaf, es folgten Empfänge, Sponsoren-Treffen, Dinner, Partys und jede Menge Hände, die geschüttelt werden wollten. Segel-Profis wie Boris Herrmann gibt es nicht viele in diesem Land, Blicke auf sich ziehend, eloquent, höflich. In Vorstandsetagen macht er bei Vorträgen eine ebenso gute Figur wie unter Kindern, die ihn an Bord seiner Rennmaschine besuchen. Das muss er auch. Denn er will etwas bei einflussreichen Leuten bewegen, damit sie in seinen Traum investieren.
Nun ist er ein wenig erschöpft, seine Stimme leise und weich. Als sich die Skyline von Landungsbrücken, Docks und Hafencity beim Abschied aus Hamburg langsam in der Ferne verliert, da seufzt er einmal erleichtert. Wie schön es sei, „den Trubel hinter sich zu lassen“. Und sein Tonfall deutet an, was er denkt: dass die Dinge von nun an wieder einfach würden. Er legt sich in die Koje, wenn er will, er isst, wenn er will, er behält dieselben Klamotten am Leib, er lässt den Rhythmus des Meeres das Tempo bestimmen, mit dem Aufgaben erledigt werden müssen. Und dass er den Entscheidungen mit seiner Sorgfalt immer einen Schritt voraus ist, hat ihn soweit gebracht.
Mit dem Fahrrad zum Meer
Das Summen an der Elbmündung klingt vielversprechend. Aber es erstirbt kurz darauf. Die Brise verliert sich im sonnendurchfluteten Sommerwetter eines weiteren heißen Tages. Bald schon kräuselt sich die Wasserfläche nur noch, während eine alte Dünung unter dem Segelschiff hindurchläuft, so gleichmäßig, als hätte Edward Hopper sie gemalt. So wird das nichts mit dem Rekord.
Als Kind fuhr er mit dem Fahrrad zum Zwischenahner Meer, wo er segeln lernte. Er war 19, als er am Mini-Transat teilnahm und elfter wurde. Danach studierte er Wirtschaftswissenschaften, segelte auf der 505er-Jolle, auch so einem Power-Boot, zu mehreren Meistertiteln, wandte sich dann aber wieder den Ozeanen zu. Er gewann auf seiner 40-Fuß-Yacht Beluga Racer sein erstes großes Rennen um die Welt, wurde von einem Orkan beinahe in Stücke geschlagen und empfahl sich dem Barcelona World Race als hoffnungsvoller Neueinsteiger in die Open-60-Szene. Man rüstete ihn für das Rennen 2010 mit einem Schiff aus, stellte ihm einen Co-Skipper zur Seite, und er machte seine Sache abermals gut. Er sammelte Erfahrungen als gefragter Navigator und hat an einem Buch über Wetter-Analysen mitgeschrieben.
Deshalb weiß Herrmann, dass Hochseewettkämpfe im Kopf entschieden werden. So überkommt ihn vor großen Regatten oft ein flaues Gefühl im Magen, das andere Seekrankheit nennen würden. Es verfliege bald wieder, sagt er, aber erst mal ist es da und erinnert ihn an die größte Herausforderung: Eigentlich müsste er Franzose werden.
Denn nur Franzosen haben das Vendée Globe seit seiner Premiere 1989 gewonnen – und auch die meisten anderen legendären Einhandrennen. Fließend Französisch spricht Herrmann längst, er hält sich oft an der Atlantikküste auf, wo sich die Werften befinden, die Ingenieure, Carbon-Spezialisten und die Konkurrenten.
Herrmann fischt eine Flasche Rotwein aus einer Provianttasche, in der ansonsten nur verschweißte Tüten mit gefriergetrockneter Nahrung liegen. Es ist der Moment, da die Sonne an Kraft verliert, da alle im breiten Cockpit der Malizia zusammenkommen, sich einen Platz zwischen den Leinen und Winschen suchen und Herrmann seine Chancen durchgeht. Er habe eine Liste geschrieben, sagt er, mit den Namen seiner Konkurrenten. Darauf lande er bei realistischer Einschätzung auf dem siebten Rang.
Auf dem siebten?
Wenn am kommenden Sonntag, dem 4. November, im französischen St. Malo die traditionsreiche Route du Rhum-Regatta nach Guadeloupe startet, wird Herrmann wissen, ob seine Liste stimmt. Unter den 20 Teilnehmern dieses Härtetests finden sich die Besten, die auch beim Vendée Globe dabei sein werden, darunter die Franzosen Yann Eliès und Jérémie Beyou sowie der Engländer Alex Thompson, die Herrmann derzeit noch stärker einschätzt als sich selbst. Allerdings sagt er nach gemeinsamen Trainingsfahrten vor Port-la-Forêt: „Wir können mithalten.“
Den größten Unterschied dürften die Foils ausmachen, sagt er. Doch die Entwicklung dieser federnden Wasserflügel ist kostspielig, nur wenige Experten kennen sich mit Berechnungsmodellen aus. Herrmann würde gerne das alte Paar gegen eine optimierte Version eintauschen, aber wie es bezahlen ohne Sponsor. Jedes kostet etwa eine halbe Million Euro. Die technische Unterstützung von BMW und Herrmanns Partnerschaft mit Casiraghi reicht dafür nicht aus.
Am Mittag des zweiten Tages erreichen Herrmann und seine Crew die Landzunge von Skagen, die den nördlichsten Punkt der Reise markiert. Von hier aus geht es durch die dänische Inselwelt direkt nach Süden. Der Wind nimmt zu. Er kann etwas Zermürbendes haben. Nun kommt er aus Südost, der falschen Richtung. Von vorne. Herrmann trimmt sein Schiff so, dass es sich hart auf die Seite legt. Dadurch bietet der Bug weniger Angriffsfläche für die kurzen, schnellen Wellen des Skagerak, die in dumpfen Stößen am Rumpf zerplatzen.
Unter Deck verbringt Herrmann die meiste Zeit in einem ergonomisch auf ihn zugeschnittenen Rennsitz, vor sich das elektronische Gehirn des Schiffes, das über Satellit mit der Außenwelt verbunden ist. Vor einem Bildschirm sitzend, Tastatur und Maus auf dem Schoß studiert er die Wetterdaten. Welcher Kurs ihn am schnellsten zum Ziel führt, berechnet ein komplexes Routingprogramm. An diesem Tag geht aus der sich ergebenden Bahn dieses „theoretischen“ Weges hervor: der Rekord rückt in weite Ferne.
Das Leben eines Segelprofis ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Er muss sich schneller weiterentwickeln als seine Konkurrenz. So kreisen die Gespräche am zweiten Abend um Geld. In Deutschland ist Sponsoring bislang immer an einen Unternehmensvorstand geknüpft, der selbst segelt. So jemanden müsse man finden, sagt ein langjähriger Unterstützer von Herrmann, „sonst hat es keinen Zweck.“
In der Vergangenheit haben vor allem solche Firmen das Vendée Globe als Plattform genutzt, die ihre internationale Expansion vorbereiteten. Der Versicherungskonzern Generali, das Umweltunternehmen Veolia oder der Bio-Konzern Ecover, der Spezialist für Fertiggerichte Maitre Coq, der Solarzellen-Hersteller SMA oder der Immobilienverwaltung Foncia. Welches Unternehmen könnte an dieser Schwelle stehen und die Ausstrahlung des Segelsports nutzen wollen?
Segeln auf einer Rennmaschine wie der Malizia ist eine Frage von Zahlen. „Eigentlich ist es angewandte Geometrie“, sagt Herrmann und deutet auf eine Tabelle, die er sich zu Erinnerung neben den Niedergang geklebt hat. Aus ihr kann er ablesen, welches seiner zahlreichen Vorsegel je nach Einfallswinkel und Stärke des Windes am besten einzusetzen ist. Manchmal ist die Differenz von nur einem Grad entscheidend, ob die Malizia auf dem Wasser festklebt oder fliegt.
Herrmann wird den Rekord am Ende um zehn Stunden verfehlen. Trotzdem zeigte die Yacht ein paarmal, was sie mit Wind anstellen würde. Und Herrmann rechnet nicht damit, dass bis 2020 noch viele Boote vom Stapel laufen werden, die schneller sind.
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