1. FC Union nach Pokal-Aus in Dortmund: Ein Spiel für höhere Ambitionen
Den Klassenunterschied zwischen Dortmund und Union gab es nur im Elfmeterschießen. Von ihrer Leistung im Pokal wollen die Berliner in den kommenden Monaten zehren.
Als gebürtiger Vorpommeraner ist Felix Kroos nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen. Andererseits ist der Mann von der Küste ganz sicher kein erfahrener Alpinist. Insofern dürften den Mittelfeldspieler vom 1. FC Union in der anbrechenden Nacht auf Donnerstag leichte Zweifel beschlichen haben, ob das Motto des Abends nicht vielleicht doch etwas zu optimistisch gewesen war. „Keine Wand ist unbezwingbar“, stand auf den roten Windjacken, die so gut wie jeder der mehr als 10.000 Anhänger des Berliner Fußball-Zweitligisten in Dortmund trug. Felix Kroos hatte nicht die Eiger Nordwand vor sich, sondern, viel schlimmer, die Südtribüne des Westfalenstadions. Als er sich im Elfmeterschießen von der Mittellinie auf den Weg machte, geriet die Wand plötzlich in Wallung. Sie fuchtelte, tobte, pfiff, Klopapierrollen flogen den Abhang hinunter. Die Botschaft war deutlich: Hier kommt keiner hoch!
„Das Pfeifkonzert war schon brutal“, sagte Unions Innenverteidiger Toni Leistner. „Da flattern selbst unseren sichersten Elfmeterschützen die Nerven.“ Von den ersten drei – Felix Kroos, Stephan Fürstner und Philipp Hosiner – traf kein einziger, und danach war das Elfmeterschießen auch schon zu Ende, weil Dembélé, Ginter und Götze für Borussia Dortmund sicher verwandelt hatten. So sah das 4:1 am Ende fast schon standesgemäß aus. In Wirklichkeit aber hatte der Zweitligist dem Favoriten alles abverlangt: Kurz vor Ende der regulären Spielzeit glich er durch den gerade eingewechselten Steven Skrzybski zum 1:1 aus und zwang den Vizemeister damit in die Verlängerung. Die Anhänger des BVB wussten schon, warum sie in lauten Jubel ausbrachen, als Schiedsrichter Jochen Drees nach der Seitenwahl vor dem Elfmeterschießen auf das Tor vor der Südtribüne zeigte.
Als Dortmunds Trainer Thomas Tuchel später ein „dickes Kompliment an das Publikum“ aussprach, konnte man das zumindest indirekt auch als dickes Kompliment an die Mannschaft des 1. FC Union verstehen. Mit fußballerischen Mitteln allein hatte sie sich nicht bezwingen lassen. Union widersetzte sich mit Eifer und taktischem Geschick. „Wir standen gut, haben so gut wie gar nichts zugelassen“, sagte Leistner. Und Torwart Daniel Mesenhöler hielt bei seinem Profidebüt, was zu halten war. Es war weniger als erwartet. „Wir haben uns wirklich sehr gut verkauft“, sagte Mesenhöler.
Jens Keller ließ selbst mehrere Stammkräfte zunächst auf der Bank
Trainer Jens Keller bescheinigte seiner Mannschaft, dass sie „Großartiges geleistet“ habe. Es war sogar mehr, als er selbst ihr offenbar zugetraut hatte. Keller nahm die Niederlage auf seine Kappe: „Ich habe vergessen, Elfmeter zu trainieren.“ Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass das nötig sein könnte – und das wohl eher nicht, weil er zwingend von einem Sieg seiner Mannschaft spätestens in der Verlängerung ausgegangen war. Genau der aber war möglich, als Dortmunds Torhüter Roman Weidenfeller in der 100. Minute am Ball vorbei trat und Skrzybski plötzlich das leere Tor vor sich hatte. Doch anstatt zu schießen, versuchte Skrzybski den Ball auf Eroll Zejnullahu quer zu legen. Im Moment des Abspiels erkannte er mit Schrecken, dass sein Kollege gerade einen Schritt nach vorn gemacht hatte – der Ball rollte ins Nichts. „Das Gefühl will keiner haben“, sagte Skrzybski.
Im Großen und Ganzen aber war die Gefühlswelt bei den Berlinern in bester Ordnung. „Ich sehe nur Positives heute“, sagte Felix Kroos. „Wir haben eine Riesenleistung gebracht. Das zählt.“ Das Auftreten gegen den vermeintlich übermäßigen Gegner hat den 1. FC Union in seinen Ambitionen noch einmal bestärkt. Der 21 Jahre alte Daniel Mesenhöler fand es „schön zu sehen, wo ich hin will: vor solchen Kulissen zu spielen“. Und das nicht nur einmal pro Saison im Pokal, sondern Woche für Woche in der Liga.
„Von dem Erlebnis zehren wir noch ein paar Wochen“, sagte Skrzybski. Lange nach dem letzten Elfmeter hüpften die Berliner Spieler vor ihrer Kurve auf und ab. Später posierte die Mannschaft vor dem Block, die rote Wand im Rücken, und ließ ein Foto fürs Familienalbum machen. Der Abend in Dortmund hat gezeigt, dass Union auch auf der ganz großen Bühne den Text beherrscht. Und die Liga weiß spätestens jetzt, dass hinter den Aufstiegsplänen eine gewisse Substanz steckt. Dazu haben auch die Personalentscheidungen von Trainer Keller beigetragen, der mit Daniel Mesenhöler, Simon Hedlund und Eroll Zejnullahu drei Spieler aufgeboten hatte, die sonst eher selten spielen: Der Kader bietet Alternativen. „Der Qualitätsverlust ist da gleich null“, sagte Toni Leistner.
Natürlich lässt sich das Erlebnis aus dem Pokal nicht einfach eins zu eins in die Liga transferieren. In Sandhausen wird man ganz sicher nicht durch eine übermächtige Kulisse zusätzlich angestachelt, und gegen Düsseldorf ist Union, anders als gegen Dortmund, nicht der Außenseiter, der dem Gegner die Spielgestaltung überlassen kann. „So gut es heute war – es wird eine große Aufgabe, das auszublenden“, sagte Felix Kroos. „Aber so wie ich unsere Mannschaft kenne, mache ich mir da keine großen Sorgen.“