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Für die Kieler ist es eine besondere Saison, aber die Krönung soll erst noch folgen.
© imago images/Holsteinoffice

Holstein Kiel will Geschichte schreiben: „Ein Lebenstraum ginge mit einem Aufstieg für viele hier im Norden in Erfüllung“

Seit dem ersten Werner-Film war der Klub vor allem bekannt als Holzbein Kiel. Jetzt könnten die Fußballer den Comic hinter sich lassen und Großes vollbringen.

Die großen Bayern im Pokal besiegt, zwei zweiwöchige Corona-Quarantänen überstanden und seitdem in vier Spielen binnen zehn Tagen die maximale Ausbeute von zwölf Punkten geholt. Schon jetzt ist es für Holstein Kiel eine besondere Saison. Aber die Krönung soll noch folgen.

Gewinnt die Mannschaft von Trainer Ole Werner an diesem Sonntag ihr Auswärtsspiel beim Karlsruher SC, steigt sie in die Fußball-Bundesliga auf. Sie hätte damit nicht nur Vereinsgeschichte geschrieben, sondern sogar mehr als das. Holstein Kiel wäre der erste Verein aus Schleswig-Holstein, der es in die Bundesliga schafft.

Die Aussicht auf den Aufstieg lässt selbst die als nüchtern geltenden Norddeutschen ausflippen. Trommelnde und skandierende Ultras, blau-weiß-rot flammende Bengalos, Spieler, die gemeinsam mit Kuttenträgern und anderen Fans feiern. Das gibt es in Kiel bei Heimspielen von Holstein selbst in Coronazeiten – unter Einhaltung der Abstandsregeln selbstverständlich.

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„Von Spiel zu Spiel treffen sich immer mehr Fans vor dem Stadion und feuern unsere Mannschaft an“, schwärmt Matthias Hermann, 42, Fußball-Blogger, Fotograf und Autor, der nur wenige hundert Meter vom Holstein-Stadion entfernt wohnt. Besonders laut war die Unterstützung am Donnerstagnachmittag beim Nachholspiel gegen Jahn Regensburg.

Nach dem dramatischen 3:2-Sieg, bei dem die Kieler zweimal in Rücktstand geraten waren, feierten die Fans vor dem Stadion mit den Spielern im Stadion.

„Natürlich achten wir alle dabei auf die Coronaregeln“, sagt Malte Reddel, 55, der oberste Fanbeauftragte des Vereins. „Eine Pandemie wird aber nicht verhindern, dass wir jetzt Geschichte schreiben!“

Geschichte geschrieben hat der Verein vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Bevor die Bundesliga eingeführt wurde, war Holstein Kiel fast durchgängig erstklassig und der Vorgängerverein F.V. Holstein 1912 sogar der erste Deutsche Meister aus dem Norden Deutschlands. Dem Hamburger SV gelang dies erst 1923, Hannover 96 feierte die erste Meisterschaft 1938 und Werder Bremen 1965.

„Unser Erfolgsrezept ist, dass wir unaufgeregt sind“

Bevor die Bundesliga eingeführt wurde, erreichte Holstein 15 Mal die Endrunde um die deutsche Meisterschaft. 1930 war der Verein am torreichsten Endspiel beteiligt, als Hertha BSC sich durch einen 5:4-Erfolg gegen die Kieler den ersten von zwei Meitertiteln sicherte.

Und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs kamen viele neue Spieler durch den Marinehafen an die Förde. Beispielsweise der spätere Weltmeister Ottmar Walter. Mit ihm besiegten die „Störche“ – der Spitzname stammt von einem ehemaligen Vereinslokal – 1943 vor 18.000 Zuschauern im eigenen Stadion den damaligen Serienmeister Schalke 04.

„Unser Erfolgsrezept ist, dass wir unaufgeregt sind“, sagt Blogger Matthias Hermann. Das ruhige Umfeld sei durch die norddeutsche Mentalität, aber auch durch die überschaubare Presselandschaft gewährleistet. „Es gibt hier keine Boulevardzeitungen“, sagt er. Unaufgeregt und bodenständig gibt sich auch der Kader.

Der in Kiel geborene Offensivspieler Fin Bartels wurde im vergangenen Sommer bei Werder Bremen aussortiert, wechselte dann zurück zu seinem Jugendverein. Und schießt ein schönes Tor nach dem anderen. Im Dezember wurde sein Seitfallzieher Tor des Monats, erst das zweite Mal, dass ein Spieler aus einem schleswig-holsteinischen Verein die seit 1971 vergebene Auszeichnung gewann. Ebenso wechselte der in Kiel geborene Junioren-Nationalspieler Fabian Reese nach Stationen unter anderem bei Schalke 04 zurück zu seinem Heimatverein.

Trainer Ole Werner von Holstein Kiel ist fest im Verein verwurzelt.
Trainer Ole Werner von Holstein Kiel ist fest im Verein verwurzelt.
© imago images/Andreas Gora

Und auch der Trainer ist fest im Verein verwurzelt. Ole Werner, in Preetz bei Kiel geboren, hat in seiner Jugend mal ein paar Monate im Nachwuchs von Hertha BSC gespielt, als Trainer aber war er bisher ausschließlich für Holstein tätig. Zuerst hat er die Junioren trainiert, danach die zweite Mannschaft, seit September 2019 die Profis. Sollte Kiel aufsteigen, wäre Werner, Jahrgang 1988 und damit fast ein Jahr jünger als Julian Nagelsmann, der jüngste Bundesligatrainer.

„Ein Lebenstraum ginge mit einem Aufstieg für viele hier im Norden in Erfüllung“, sagt Matthias Hermann. „Einige haben in den vergangenen Jahrzehnten lange Rumpelfußball gesehen.“ Holzbein Kiel, die liebevolle Titulierung aus dem ersten Werner-Film, schien programmatisch. „Lange war der fiktive Verein aus dem Comic bekannter als wir“, sagt Hermann Hermann.

1978 gelang der Aufstieg in die Zweite Liga

Hinter dem Klub liegen Jahrzehnte des Leidens. Oder wie es Hermann ausdrückt: „Ligareformen waren für Holstein immer schlecht. Die Einführung der Bundesliga 1963 bedeutete für uns einen Genickbruch.“ Der Verein dümpelte in den Folgejahren in der Bedeutungslosigkeit herum, rutschte bis in die Viertklassigkeit.

Nur punktuell feierte Holstein noch Erfolge. 1978 gelang der Aufstieg in die damals noch zweigeteilte Zweite Liga, weil die Kieler das Entscheidungsspiel gegen Wacker 04 Berlin aus Reinickendorf 1:0 gewannen. 2009 führte der frühere Hertha-Trainer Falko Götz Holstein in die Dritte Liga. Allerdings musste Götz bald schon wieder gehen, nachdem ihm eine Tätlichkeit gegen einen eigenen Spieler vorgeworfen worden war.

Und jetzt, zwei Spieltage vor Saisonende, hat Kiel in der Zweiten Liga zumindest schon Platz drei und damit die Relegation sicher. So wie 2018, nur ein Jahr nach dem Aufstieg in die Zweite Liga, als Holstein gegen den VfL Wolfsburg antrat – und scheiterte.

„Last-Minute-Dramen haben wir alle satt“, sagt Hermann. Die Aussicht, dass ihnen ein solches Erlebnis in diesem Jahr erspart bleibt, sind immerhin gut. Sollte es heute mit dem Auswärtssieg in Karlsruhe nicht klappen, bleibt Holstein immerhin noch das Heimspiel am letzten Spieltag gegen Darmstadt 98, um den Aufstieg perfekt zu machen.

Momentan bietet das Holstein-Stadion lediglich 15.034 Zuschauern Platz; langfristige Pläne sehen einen Ausbau vor.
Momentan bietet das Holstein-Stadion lediglich 15.034 Zuschauern Platz; langfristige Pläne sehen einen Ausbau vor.
© imago image

Insgesamt 22.000 Plätze sind geplant

Was danach kommt, wäre für den Klub und seine Fans eine ganz neue Erfahrung. „Bin gespannt, wie das Kieler Publikum im kommenden Jahr reagiert, wenn Holstein nicht immer gewinnt“, sagt Hermann. Jahrelang stand Kiel sportlich nur für Handball; der THW überstrahlte mit seinen internationalen Erfolgen alles. „Enttäuschungen können auch entstehen, wenn es gegen große Vereine keine Tickets für unser kleines Stadion geben wird.“

Über das auf den ersten Blick etwas improvisiert wirkende Holstein-Stadion am Westring, gut einen Kilometer von der Förde entfernt, wurde in den vergangenen Tagen in diversen Erstligafanforen gespottet. Historisches zeigt sich aber auf den zweiten Blick.

Das Stadion wurde bereits 1911 mit einer ersten Holztribüne eröffnet. Ein Denkmal auf dem Vorplatz erinnert an die vielen verstorbenen Fußballer in den Weltkriegen, darunter auch an Ernst Möller, den Siegtorschützen im Meisterschaftsfinale 1912. Vier Jahre später starb er im Ersten Weltkrieg, mit 25 Jahren.

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Momentan bietet das Holstein-Stadion lediglich 15.034 Zuschauern Platz; langfristige Pläne sehen einen Ausbau auf 22.000 Plätze vor. Hermann gibt allerdings zu bedenken: „Von Aachen bis Dresden: Wir kennen ja genügend Fußballorte, die ein überdimensioniertes Stadion aus vergangenen glorreichen Zeiten besitzen.“ Und darunter finanziell zu leiden haben, wenn die Zeiten schon längst nicht mehr so glorreich sind.

Aber das spielt im Moment in Kiel nur eine untergeordnete Rolle. Die Menschen fragen sich eher, wie sich der Aufstieg in Coronazeiten gebührend feiern lässt. Selbst wenn die Inzidenz im bundesweiten Vergleich auffallend niedrig ist: „Ganz coronakonform wird eine Aufstiegsfeier natürlich schwer zu organisieren sein“, sagt Hermann.

Seit dem Sieg gegen die Bayern in der zweiten Runde des DFB-Pokals haben sich Autokorsos in Kiel etabliert. Eines ist auf jeden Fall klar. „Einen schnöseligen Sektempfang wird es nach einem erfolgreichen Auswärtssieg nicht geben“, sagt Malte Reddel, der Fanbeauftragte des Vereins. „Hier im Norden wird in Bier gebadet.“

Alexander Schäfer

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