Schach-WM Carlsen vs. Caruana: Ein kleiner Fehler entscheidet das ganze Duell
Ein falscher Zug: Fabiano Caruana verliert nach zwölf Remis im Schnellschach gegen Magnus Carlsen. Der ist hauptsächlich erleichtert, seinen Titel zu behalten.
Manchmal ist es ein winzig kleiner Moment, der Bruchteil einer Nachdenksekunde, in dem sich eine Weltmeisterschaft im Schach entscheidet. Magnus Carlsen, der Titelverteidiger, hatte Weiß in der ersten von vier Schnellschachpartien, die am Mittwoch im Tiebreak gegen Herausforderer Fabiano Caruana angesetzt waren. Carlsen stand besser, Caruana verteidigte umsichtig. Das Gröbste schien überstanden, das Endspiel war erreicht.
Da geschah es. Caruana wählte eine falsche Zugreihenfolge, übersah ein Schachgebot, durch das Carlsen zwei verbundene Freibauern bekam. Das war’s. Zum erstenmal in diesem legendären Schachkrimi in London, in dem zwölf reguläre Partien zwölfmal unentschieden geendet hatten, gab es einen Sieger.
Carlsen: "Hatte guten Arbeitstag"
Was dann geschah, war reine Formsache. Auch die zweite und dritte Schnellschachpartie gewann der 27 Jahre alte Norweger, der am Freitag Geburtstag hat, souverän und verteidigte damit nach seinem ersten WM-Triumph 2013 den Titel nun schon zum dritten Mal. Carlsen bleibt auf dem Thron.
„Ich hatte einen wirklich guten Arbeitstag heute“, sagte er in der Pressekonferenz nach dem erneuten Titelgewinn. Drei Siege hintereinander gegen einen Herausforderer, der im vergangenen Jahr fast jedes Turnier gewonnen, sich in der Weltrangliste bis auf drei Wertungspunkte an Carlsen herangeschoben und von Runde zu Runde sicherer gewirkt hatte: Das kam einer Demütigung gleich.
Carlsen muss das gespürt haben. Mit einer Großherzigkeit, die nur ein überlegener Spieler aufbringen kann, sagte er: „Fabiano ist der stärkste Gegner, gegen den ich je in einer Weltmeisterschaft angetreten bin. Er hat dasselbe Recht, sich als weltbesten Spieler zu bezeichnen, wie ich.“
Tiebreak ist Nervensache
Ob Caruanas Patzer am Ende der ersten Schnellschachpartie wirklich matchentscheidend war, wird sich nie eindeutig feststellen lassen. Doch Tiebreak ist Nervensache. „Kritisch war die erste Partie“, sagte Carlsen im Anschluss. „Der Sieg gab mir viel Selbstvertrauen.“ Jeder Schachspieler kennt das: Je besser die Stimmung, desto besser das Spiel. Wer sich wohlfühlt am Brett, findet meistens auch gute Züge. Umgekehrt gilt: Wer eine Partie unglücklich verloren hat, grämt sich, baut Angst auf, sieht sich dem Druck ausgesetzt, nun die nächste Partie unbedingt gewinnen zu müssen. Das alles verführt zu ungenauem Spiel.
In dieser Minisekunde im ersten Tiebreak-Spiel zerbrach etwas in Caruana, das er in der Kürze der Zeit nicht mehr reparieren konnte. Aus war der Traum vom ersten Titelgewinn eines US-Amerikaners, 46 Jahre, nachdem Robert James „Bobby“ Fischer 1972 in dem als Duell der Systeme legendär gewordenen WM-Match gegen den Sowjet-Russen Boris Spasski gewann.
Das schmälert nicht den Erfolg Carlsens. Wieder einmal hat er es allen gezeigt, besonders jenen, die meinten, bei ihm einen Leistungsabfall beobachtet zu haben. Er wirke müde und unkonzentriert, hieß es während der WM. Nach dem Remis in der fünften Runde war er gefragt worden, wer sein Idol im Schach sei. „Mein Lieblingsspieler der Vergangenheit, das bin ich selbst“, antwortete Carlsen, „vor drei, vier Jahren.“ Alles lachte, doch es verbarg sich in dem Satz auch Selbsterkenntnis. An der Spitze zu bleiben, kostet oft mehr Kraft und Motivationswille, als eine Spitze erklimmen zu wollen. Mit 13 Jahren und vier Monaten war Carlsen bereits Großmeister, mit 19 Jahren der jüngste Weltranglistenerste der Geschichte, seit Juli 2011 führt er die Weltrangliste ohne Unterbrechung an.
Mozart, Superstar, Virtuose, Exzentriker
Ein Rekord reiht sich bei ihm an den anderen. Carlsen ist der Mozart des Schachs, der Superstar, der Virtuose, der Intuitive, der Exzentriker, der Durchtrainierte. Für die britische „Cosmopolitan“ war er der „Sexiest Man of 2013“, das „Time“-Magazin zählte ihn zu den hundert einflussreichsten Personen weltweit. Wie lange trägt ein solches Image? „Weltmeister zu sein, ist Teil meiner Identität geworden“, hatte Carlsen vor dem jüngsten WM-Kampf gesagt – und hinzugefügt: „Es kümmert mich gar nicht so sehr, Weltmeister zu sein. Ich möchte nur nicht, dass es jemand anderes ist. Das ist ein wenig beschämend, muss ich ehrlich gestehen. So sollte es eigentlich nicht sein.“ Die Titelverteidigung als Identitätsbehauptung. Wer so früh so weit kommt, was ist der dann ohne Titel?
Gespielt worden war im „The College“, einem viktorianischen Prachtbau in Holborn, mitten in London. Carlsen und Caruana – C&C - saßen hinter einer Doppelglas-Panoramascheibe, die sie vom Auditorium trennte. Im Spielzimmer herrschten stets exakt 22 Grad Celsius. Handys waren verboten. Es gab einen Ruheraum für die Spieler mit Sesseln, Snacks und Getränken. Vom Preisgeld in Höhe von einer Million Euro gehen 55 Prozent an Carlsen, 45 Prozent an Caruana.
Carlsen bleibt, was er war. Doch was wird aus Caruana? Sein steiler Aufstieg hat zum erstenmal einen Dämpfer bekommen. Aus diesem Tief muss sich der stille Grübler wieder herausziehen. Wenn ihm das gelingt, könnte er noch stärker werden, als er ohnehin schon ist.