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Verdient, aber nicht glorreich: Frankreich holte den zweiten WM-Titel in seiner Fußball-Geschichte.
© REUTERS/Christian Hartmann

Frankreich und die Fußball-WM: Die Welt fühlt sich von ihrem Meister betrogen

Schönen Angriffsfußball zeigte der neue Champion aus Frankreich nicht. Doch der Erfolg gibt ihm recht. Ein Rückblick auf ein Turnier und sein Finale.

In den Stunden danach hat die Welt gar nicht so sehr über Fußball geredet. Sondern über den Regen. Dass er symbolträchtig zur Siegerehrung über Moskau niederging und eine kleine Ewigkeit lang nur Wladimir Putin im Trockenen stand, beschirmt von einem dienstbeflissenen Geist, auf dass sich der Präsident nicht erkälten möge vor dem Gipfel mit Donald Trump.

Neben Putin standen Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, seine kroatische Kollegin Kolinda Grabar Kitarovic und Gianni Infantino, der Chef des Fußball-Weltverbandes Fifa. Alle trieften sie vor Nässe, bis endlich ein paar weitere Minischirme ihren Weg auf den Rasen fanden. Die Welt war sich einig darin, dass Putin im Moskauer Regen eine große Chance verpasst hatte. Er hätte als guter Gastgeber und vollendeter Gentleman seinen Schirm weiterreichen können, aber wahrscheinlich wäre ihm auch diese Geste zum Nachteil ausgelegt worden, als Schlusspunkt einer komplett inszenierten WM.

Die Welt hat sich gut vier Wochen lang an Russland abgearbeitet. Vom Eröffnungsspiel im Luschniki bis zum Finale ebenda. Es waren die beiden einzigen Gelegenheiten, zu denen sich Putin überhaupt im Stadion zeigte, was für seine Kritiker ebenfalls zur Inszenierung gehörte. Der Fußball ist bei dieser Diskussion ein bisschen zu kurz gekommen und die Welt fand, das passe zu diesem Turnier. Zu einer Weltmeisterschaft, deren Sieger den Fußball ein wenig zu kurz kommen ließen.

Da ist schon etwas dran. Die Franzosen spielten, wie sie später feierten nach ihrem 4:2-Sieg im Finale über Kroatien. Eher routiniert und längst nicht so begeistert wie Monsieur le President, der wie ein Groupie umherhüpfte. Erst bei der verregneten Siegerehrung und später im Innenraum des Stadions, wo er jeden herzte, der ein französisches Trikot trug oder ein kroatisches, dabei erwischte es auch einen schwer begeisterten Kameramann.

Emmanuel Macron steht für das jugendliche, das zum Aufbruch bereite Frankreich. Lässt sich das auch von der französischen Nationalmannschaft sagen? Frankreichs multikulturelle Auswahl mit ihren Wurzeln in Angola und Algerien, in Guinea, Kamerun und Martinique vereint so viel Talent wie kaum eine andere auf der Welt, aber sie hat dieses Talent sorgsam vor den Augen der Welt gehütet. Vor zwei Jahren bei der EM daheim hatten es die Franzosen mit romantischem Angriffsfußball versucht und waren im Endspiel an portugiesischen Minimalisten gescheitert. „Das war schmerzvoll“, sagt der Trainer Didier Deschamps. „Aber vielleicht wären wir jetzt nicht Weltmeister, wenn wir es damals geschafft hätten.“

Die Franzosen versuchten es mit portugiesischen Mitteln

Das Trauma von 2016 hat die Franzosen einen neuen Stil gelehrt. In Russland haben sie es selbst mit portugiesischen Mitteln versucht. Virtuosen wie Paul Pogba hielten sich bevorzugt in der französischen Hälfte des Platzes auf. Olivier Giroud dürfte vor lauter Grätschen vergessen haben, dass er im Alltag beim FC Chelsea als Stürmer angestellt ist. Der 19 Jahre junge Kylian Mbappé hat das Stadion bei jedem Spiel mit dem staunenden Lächeln eines großen Kindes betreten. Aber wenn seine Mannschaft erst einmal in Führung lag, demonstrierte er eine Gabe zur Spielverzögerung, die sich ein Profi eigentlich erst zum Ende seiner Karriere angeeignet hat.

Belgiens Eden Hazard hat das Unbehagen gegenüber dem neuen Weltmeister nach dem verlorenen Halbfinale in den Satz gegossen: „Ich würde lieber mit dieser belgischen Mannschaft verlieren als mit dieser französischen gewinnen.“ Die Welt ist ein bisschen beleidigt, sie fühlt sich von ihrem Meister betrogen. Um den schönen Fußball. Die Kritik am Niveau der Weltmeisterschaft im Allgemeinem und am Stil der Franzosen im Besonderen mag aus sportlicher Sicht berechtigt sein, aber wer hat denn mehr erwartet?

Nein, Russland 2018 war kein Fest des schönen Fußballs. Diesem Anspruch kann eine WM schwer gerecht werden am Ende eines Jahres, in dem die Besten der Welt 60 Spiele und mehr hinter sich haben. Die Weltmesse des Fußballs ist die Champions League, wo Woche für Woche die Besten der Besten gegen- und miteinander spielen. Eine Nationalmannschaft kommt drei Wochen vor einem großen Turnier zusammen. Da müssen Automatismen schneller greifen, was sich schwerlich verträgt mit der romantischen Vorstellung vom schönen Angriffsfußball.

Und doch hatte auch diese Weltmeisterschaft großartige Momente. Das 3:3 der Portugiesen gegen die Spanier mit dem dreifachen Torschützen Cristiano Ronaldo. Die epische Schlacht zwischen Uruguay und Portugal. Das 3:0 der Kroaten über Argentinien. Fast alle Spiele der Brasilianer, trotz der Schauspieleinlagen von Neymar. Oder das 4:3 der Franzosen im Achtelfinale über Argentinien, als ein Naturereignis namens Mbappé über Kasan kam. Da war zu erahnen, welches fußballerische Potenzial im Weltmeister steckt, und wie schön wäre es doch gewesen, wenn er mehr davon gezeigt hätte. Doch der Erfolg gibt den Franzosen recht.

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Auf dem Weg ins Finale mussten sie nach den Argentiniern noch Uruguay und Belgien aus dem Weg räumen. Das ist ein sehr viel anspruchsvolleres Programm, als es die Kroaten gegen Dänemark, Russland und England zu absolvieren hatten. Die Franzosen sind ein verdienter Weltmeister, aber liegt es nicht in ihrer Natur, dass sie auch gern ein schöner geworden wären? Didier Deschamps sagt, er verstehe die Frage nicht. „Wir sind Weltmeister, das ist ein Wert, der bleibt. Meine Spieler werden auf immer und ewig als Weltmeister in Erinnerung bleiben. Aber im Moment wissen sie noch gar nicht, was das bedeutet.“

Der schweigsame Baske weiß es aus eigener Erfahrung. Er war Kapitän der französischen Mannschaft, die 1998 in Paris den Gipfel bestieg. Wie Franz Beckenbauer und der Brasilianer Mario Zagallo hat Deschamps als Trainer und als Spieler die WM gewonnen. Es fiel ihm nicht leicht, einen Moment der Besinnlichkeit zu finden, wie ihn Beckenbauer 1990 bei seinem gedankenverlorenen Spaziergang über den Rasen von Rom fand.

Erst störten der Regen und der ohrenbetäubende Europop aus den Lautsprechern des Luschniki. Und als er Stunden nach dem Finale über die tiefere Bedeutung des Erfolges sinnierte, kaperten seine Spieler den Pressesaal. Sie bespritzten Deschamps mit Champagner, angeführt von Paul Pogba, der den Weltpokal schwenkte, „vive la République!“ rief und „vive la France!“ Da war sie endlich, die Leidenschaft, mit der die Franzosen auf dem Rasen so sparsam umgegangen waren.

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