Videobeweis in der Bundesliga: Die Suche nach Wahrheit
Es gibt mal wieder Ärger um den Videobeweis – und das wird wohl auch für alle Zeiten so bleiben.
Die Wahrheit war mal auf dem Platz, so hat es Otto Rehhagel formuliert, aber der ist gerade 80 geworden. Neuerdings ist die Wahrheit in einem Kölner Keller, wo die Video Assistant Referees ihres Amtes walten und Woche für Woche Verstimmung in der Fußball-Bundesliga provozieren.
Der Hoffenheimer Trainer Julian Nagelsmann mochte zur Saisoneröffnung in München partout nicht verstehen, warum sich der Schiedsrichter Bastian Dankert die zum vorentscheidenden Strafstoß führende Szene nicht noch einmal anschauen wollte. Dankert hatte beste Sicht, er pfiff sofort, es war eine 50:50-Situation und alles andere als eine klare Fehlentscheidung. Tags darauf wiederum monierte Schalkes Trainer Domenico Tedesco, dass Patrick Ittrich zweimal den Videobeweis bemühte, obwohl er doch zuvor zwei durchaus vertretbare Tatsachenentscheidungen getroffen hatte. Mal ist der Kölner Keller zu aktiv, mal zu passiv – je nachdem, wer sich benachteiligt fühlt. Eine allgemeingültige Kritik sieht anders aus.
Der Videobeweis sollte den Fußball gerechter machen, diesem Auftrag hat er am ersten Bundesliga-Wochenende keinesfalls zuwidergehandelt. Es gab ein paar diskutable Entscheidungen, aber keine nachweislich falschen von spielentscheidendem Einfluss. Das ist eigentlich eine schöne Nachricht, aber niemand hat sie so ausgesprochen. Bayern Münchens Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge regte gleich mal die Gründung einer Task Force an. Das klingt wichtig und professionell, auch wenn diese Talk Force schwerlich Punkte ansprechen kann, die noch nicht bis zum Gehtnichtmehr durchgekaut worden sind. Hoffenheims Manager Alexander Rosen hat in München darauf verwiesen, wie großartig das bei der Weltmeisterschaft in Russland funktioniert habe, mit handelnden Personen aus Simbabwe, Saudi-Arabien und Uruguay, nur die Deutschen seien wieder mal zu blöd und bekämen das nicht auf die Reihe. In der Politik nennt man diesen Ansatz der Problemansprache Populismus.
Die WM war ein Spiegelbild der Probleme
In Deutschland gilt die WM rückblickend als Festival der sportlichen Einfallslosigkeit, aber den Videobeweis hat sie ganz vorbildlich zur Anwendung gebracht. Dabei war das spielerische Niveau in Russland gewiss nicht schwächer als bei den Vorgängerturnieren in diesem Jahrtausend, von den eher gemütlichen Veranstaltungen davor ganz zu schweigen. Und was den Videobeweis betrifft, ging auch zwischen Kaliningrad und Sotschi einiges durcheinander. Beim Vorrundenspiel zwischen Portugal und Iran lief der paraguayische Schiedsrichter Enrique Caceres so oft zum Monitor, dass der ZDF-Experte Oliver Kahn von einer „Videobeweis-Orgie“ sprach. Im Endspiel übersahen der Argentinier Nestor Pitana und seine Video-Kollegen, dass Antoine Griezmann sich den zum französischen 1:0 führenden Freistoß mit einer Schwalbe ergaunert hatte. Dafür bedachte er die Franzosen später nach Betrachten der Bilder mit einem Elfmeter, von dem Kroatiens Trainer Zlatko Dalic sagte, er dürfe in einem so wichtigen Spiel auf gar keinen Fall gepfiffen werden.
Die WM war ein Spiegelbild der Probleme, die der Videobeweis mit sich bringt. Probleme, die systemimmanent sind. Fußball ist ein Kontaktsport mit fließendem Übergang zwischen erlaubter und zu sanktionierender Körperlichkeit. Was aus der einen Perspektive wie ein brutales Foul aussieht, ist aus der anderen ein legitimes Tackling. Als der Video-Beweis zur vergangenen Saison in der Bundesliga eingeführt wurde, stieß das bei den deutschen Schiedsrichtern auf Zustimmung und Skepsis zugleich. „Natürlich freuen wir uns alle darüber, dass wir von einer schweren Bürde befreit werden“, sagte der Berliner Manuel Gräfe im Interview mit dem Tagesspiegel. „Jeder Schiedsrichter hat als größte Sorge, dass er eine Jahrhundert-Fehlentscheidung treffen könnte – einen Pfiff, den du nie wieder loswirst“, etwa das Phantomtor von Bayerns Thomas Helmer gegen Nürnberg oder das Handspiel des Schalkers Oliver Held, durch das der 1. FC Köln mal absteigen musste. „Es wird viele Situationen geben, die die Videoschiedsrichter richtig auflösen“, sprach Gräfe. „Aber es gibt eben auch viele, die für den einen klar falsch sind und für andere noch im Grenzbereich liegen. Jeder Schiedsrichter hat seine Sicht.“
Am Ende könnten die Schiedsrichter als Verlierer dastehen
Der Eingriff von außen darf nur bei glasklaren Fehlern erfolgen, weil das Spiel sonst zu sehr zerfasert. Aber was ist glasklar? Das definieren Schiedsrichter genauso unterschiedlich wie die Kombattanten auf dem Platz. Für Julian Nagelsmann war der Elfmeterpfiff von München eine klare Fehlentscheidung, für Domenico Tedesco die Gelbe Karte für den später mit rot sanktionierte Tritt des Schalkers Matija Nastasic dagegen völlig regelkonform. Wie hätte Nagelsmann wohl einen vergleichbaren Elfmeter für seine Mannschaft gewertet? Und wie Tedesco einen später mit Rot geahndeten Tritt eines Wolfsburgers?
Manuel Gräfe hat schon im Interview vor einem Jahr befürchtet, mit dem Videobeweis könne es zu einer Verlagerung der Diskussion und Verantwortung kommen. Am Ende könnten die Schiedsrichter als Verlierer dastehen, mit der Begründung: „Jetzt haben Sie noch die Bilder und machen es immer noch falsch“. Die Wahrheit war mal auf dem Platz, aber es gab im Fußball schon immer mehr als eine Wahrheit, die Kameras bieten sie aus verschiedenen Perspektiven an und der Schiedsrichter muss eine davon wählen. Der Fußball hat ein bisschen an Gerechtigkeit gewonnen, aber er ist jetzt ein anderes Spiel. Eines, bei dem spontaner Jubel immer öfter minutenlanger Ungewissheit Platz macht. Keine Task Force wird diesen Wandel rückgängig machen.
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